Die Rache. Thriller.
Weile den Hörer ans Ohr, aber sie vernahm nichts als Rauschen. Es hatte sie tief berührt, die Stimme ihres Sohnes zu hören. Schließlich hängte sie ein und schlug verzweifelt mit der Faust auf den Tisch. Sie stellte sich Tommy vor, wie er da allein in einem kleinen Zimmer saß. Und sie konnte nicht zu ihm, um ihn zu trösten. Sie dachte an den Tag, an dem der Arzt ihr mitgeteilt hatte, daß sie schwanger sei. Sie war damals erregt und zugleich verwirrt gewesen. Das Leben mit Duncan und den Mädchen erschien ihr so harmonisch und ausgeglichen. Sie fürchtete, daß ein neues Kind das Gleichgewicht der Familie stören könnte. Was aber Tommys Existenz wirklich an Sorgen und Unruhe mit sich bringen würde, konnte sie damals nicht ahnen.
Die Mädchen waren die Kinder meiner Jugend, dachte sie. Bei Tommy war ich reif und erwachsen. Mit ihm fing mein eigentliches Leben an. Duncan und ich liebten uns auf ganz andere Weise als vorher, wir waren ruhiger, ausgeglichener, nicht mehr so hitzig, abenteuerlustig und wild wie am Anfang. Wenn ich Tommy verliere, geht auch ein Teil von mir verloren …
Erst jetzt bemerkte sie, daß beide Zwillinge vor ihr standen. Sie waren blaß, machten aber einen gefaßten Eindruck. Megan stand auf und umarmte sie.
Mit ihr selbst war eine seltsame Veränderung vorgegan-gen: Ihr war, als wäre etwas in ihr zerbrochen wie eine Eierschale, aus der etwas Neues hervorgeht. Als sie darüber nachdachte, wurde ihr bewußt, daß es Mordgedanken waren.
KAPITEL 8
Freitag
Kurz vor der Morgendämmerung saß Duncan auf dem Fußboden in Tommys Zimmer und ging seine Checkliste durch. Es war still im Haus, er hörte nur das Anspringen der Heizung und gelegentlich das Kratzen von Zweigen, die der Wind gegen die Fensterscheibe drückte, oder ein Stöhnen aus dem Zimmer der Zwillinge, deren Schlaf gegen Ende der Nacht unruhiger wurde.
Ich werde es schaffen, dachte er. Er legte das Papier auf Tommys Bett und stand auf. Die letzten Stunden vor Morgen waren immer die schwierigsten. Er dachte an die vielen Male, die er Tommy in dieser Zeit auf dem Arm gewiegt hatte. Manchmal hatte er ihn festhalten müssen wie ein Ringer. Oft war ihm gewesen, als seien Tommys innere Kämpfe und Ängste stärker als er, und er brauchte all seine Kraft, um diese Ängste zu besiegen und ihm Sicherheit und Selbstvertrauen zu geben.
Auf Tommys Schreibtisch lag ein braunweißer Schildkrötenpanzer. Er nahm ihn in die Hand und strich über die rauhe Oberseite. Wo hat er sie her? Und was bedeutet sie ihm, fragte sich Duncan. Dann nahm er einen Stein, der aussah, als sei er in der Mitte durchgeschnitten worden, so daß man immer die purpurfarbene und weiße Quarzstruktur sah. Welches Geheimnis wohl dieser Stein verbarg?
Zwei Dutzend Spielzeugfiguren standen sich in zwei Reihen gegenüber. Ritter, Soldaten aus dem Unabhängig-keitskrieg, Angehörige der Army in seltsam anachronistischem Durcheinander. Auf welcher Seite hast du gestanden, Tommy?
Plötzlich übermannte Duncan die ganze Erschöpfung der letzten Tage. Wer bin ich eigentlich, fragte er sich. Ich bin Bankier. Und außerdem Geschäftsmann und Vater und Ehemann. Aber das ist nicht alles. Ich lüge mich selbst an, wenn ich den Rest verschweige. Ich bin auch ein Krimineller. Seit dem Tag in Lodi. Aber es steckte schon immer ein Krimineller in mir.
Noch einmal ging er das geplante Verbrechen in allen Einzelheiten durch. Er empfand keine Skrupel. Sie haben mir mein Kind gestohlen, und ich muß es wiederbekommen. Ich kann auf nichts mehr Rücksicht nehmen.
Er dachte an seine Mutter, an Megan und Olivia. Drei Frauen, die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten.
Meine Mutter war unpersönlich und distanziert, immer exakt, aber leidenschaftslos. Megan war genau das Gegenteil von ihr, voller Phantasie und Farbe, immer so fröhlich und spontan. Olivia bedeutete Gefahr, Rebellion, Zorn und Macht.
Zum ersten Mal hatte er Olivia erlebt, als Studenten gegen die Nachwuchswerbung der CIA auf dem Campus demonstrierten. Olivia war vor einer großen Gruppe hermarschiert. Die Demonstranten skandierten Slogans und trugen Transparente. Dann stürmten sie das Verwaltungsgebäude und beschimpften laut die Sekretärinnen, die Angestellten im Immatrikulationsbüro und andere Mitarbeiter. Die Schreibtische bespritzten sie mit Schafsblut. Wie im Wirbelsturm flogen Akten durch die Räume.
Als die Polizei erschien, wurde das Chaos noch größer.
Olivia war wie besessen damals, dachte Duncan.
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