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Die Rache

Die Rache

Titel: Die Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John T. Lescroart
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machte es sich bequem. Endlich war das Laken oben eingerissen. Er achtete darauf, nur die Hände zu bewegen, und riß langsam einen Streifen ab. Drei Streifen brauchte er, alle von oben nach unten gerissen. Das schwierigste war immer der Anfang, der erste Riß mit dem Stückchen Metall. Wieder und wieder zog er das alte Krankenhauslaken darüber, bis er einen zweiten Streifen abtrennen konnte, nur mit der Kraft seiner Hände, so daß außerhalb der Decke keine Bewegung sichtbar war. Er schaffte zehn Zentimeter, dann begann er oben von neuem.
    Drei Streifen brauchte er.
    Diese drei Streifen flocht man dann zu einem Seil von etwa zwei Meter Länge und machte eine Schlinge in das eine Ende des Seils und knotete das andere Ende an dem Gitter fest, das man zum Einreißen benutzt hatte. Man legte sich die Schlinge um den Hals und rollte sich auf der anderen Seite vom Bett herunter.
    Er würde nicht wieder ins Gefängnis gehen.

20
     
    Kevin Driscoll war zweiundvierzig Jahre alt, und seine Ehe mit May war an dem Tiefpunkt angelangt, den man erreichte, wenn man zwei Kinder im Alter von einem und zwei Jahren hatte, die einen kaum schlafen ließen. Außerdem hatte seine Frau ihn seit drei Wochen nicht mehr rangelassen, und das verdroß ihn zusehends. An diesem Morgen war er um Viertel vor fünf von Jasons völlig grundlosem Gebrüll erwacht.
    Kevin Driscoll hatte chronische Halsschmerzen. An diesem Morgen tat es besonders weh.
    Er war Filialleiter der Wells Fargo Bank und fragte sich gerade, während er seinen Blick über die Kunden, die Schalterbeamten, die Assistenten des Vizepräsidenten – und diesen Rang hatten alle oberhalb der Schalterbeamten – schweifen ließ, ob die Welt schon immer so gewesen war oder ob er sie nur zum erstenmal klar sah. Ein Sprichwort sagte, daß sich der eigene Charakter am deutlichsten offenbarte, wenn man eine harte Zeit durchmachte. Vielleicht war das ja übertragbar, und der Charakter der ganzen Welt offenbarte sich, wenn man eine harte Zeit durchmachte.
    Was er sah, deprimierte ihn noch mehr.
    Sieben Kunden warteten an den Schaltern. Früher hätte er keinen einen Gedanken darauf verschwendet, aber jetzt fragte er sich, wie viele von ihnen Eltern waren. Mindestens drei, vielleicht vier. Kein Wunder, daß die Kunden jenseits der Schalterfenster immer schlecht gelaunt waren.
    Nur zwei Schalter waren besetzt. Vier Beamtinnen scharten sich um den Schreibtisch von Marianne, der Schalteraufsicht, taten geheimnisvoll und tauschten Klatsch aus.
    Wieder stellte sich ein Kunde an, jetzt waren es acht. Wie üblich herrschte am Dienstag morgen Hochbetrieb, aber keine der Schalterbeamtinnen kam auf die Idee, sich an ihren Arbeitsplatz zu begeben. Laßt die Leute doch warten. Das war ihre Mentalität.
    Kevin hustete und räusperte sich in der Hoffnung, Marianne oder eine der anderen Damen würde den Wink verstehen. Er haßte diese primitive Prozedur, aber um die Damen in Bewegung zu setzen, bedurfte es manchmal einer plumpen Aktion. Das Problem war nur – er durfte auf keinen Fall wütend wirken, auch wenn er in seiner momentanen Stimmung wütend war. Bankdirektoren haben keine Persönlichkeit. Sie sind die Ruhe selbst.
    Er stand auf, sah die Blicke der Kunden, ihre verdrehten Augen und hilflosen Gesten. Sie ruckten vor und zurück wie Rinder auf einem Viehtransport.
    »He! Wie wäre es, wenn Sie noch einen Schalter öffnen? Was stehen Sie da hinten rum?«
    Kevin fluchte innerlich. Er hob die Hand, damit der Sicherheitsbeamte nicht einschritt, weil er verstehen konnte, daß der Kunde laut geworden war. Er wäre selbst gern laut geworden.
    Er ging zu der Klatschrunde hinüber. »Marianne«, sagte er ruhig.
    Sie blickte auf. Immer gelassen, immer sitzend, seit sieben Jahren Schalteraufsicht, einhundertachtzig Pfund pure Dummheit, aber süß. So süß, daß er sie hätte umbringen können. Sie lächelte. »Ja, Kevin?«
    Er zeigte auf die Schlange und rang sich ein geduldiges Lächeln ab. Jeder Muskel seines Gesichts schien sich dabei zu verkrampfen.
    Seufzend schickte Marianne eine ihrer Damen hinüber. Eine. Das Mädchen hatte keine Eile, es brachte erst einmal sorgfältig seinen Arbeitsbereich in Ordnung.
    »Verdammt«, sagte der Kunde, der geschrien hatte, und verließ die Schlange.
    Ein weiterer zufriedener Kunde.
    »Marianne«, wiederholte Kevin.
    Sie winkte ab und murmelte: »Die werden schon warten.«
    »Gehören Sie zur Direktion?«
    Erst Viertel nach zehn. Kevin drehte sich um und konzentrierte

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