Die Radleys
Mitternacht.«
Ihr Fenster hatte sich surrend geschlossen, und Jared war
nichts anderes übrig geblieben, als nach Hause zu gehen.
»Beweise für Vampire beweisen nur, dass Sie wahnsinnig
sind«, hatte Alison ihm einmal erzählt. Die gleiche Frau hatte ihm erklärt, dass er,
falls er irgendwem gegenüber – einschließlich seiner Tochter – erwähnte, wen er für
den Mörder seiner Frau hielt, wieder in der Klinik landen und für den Rest seines
Lebens dort bleiben würde.
Er seufzte, denn er wusste, dass Will Radley um
Mitternacht noch am Leben sein würde.
Es war alles zwecklos.
Er hielt sich im gleichen Dorf wie Will Radley auf, konnte
aber überhaupt nichts tun. Er lief weiter, am Pub und am Postamt vorbei und am
Delikatessenladen, der Partyhäppchen verkaufte, die er sich nicht leisten konnte,
selbst wenn er sie hätte haben wollen. Eine Tafel mit Holzrahmen lehnte im
beleuchteten Schaufenster und pries Parmaschinken an, Manzana-Oliven, gegrillte
Artischocken und Marokkanisches Couscous.
Ich gehöre nicht hierher.
Auf diesen Gedanken folgte noch ein weiterer.
Ich habe mich meiner Tochter gegenüber unmöglich
benommen.
Er traf eine Entscheidung. Er würde nach Hause gehen und
sich bei Eve entschuldigen. Es muss schlimm für sie gewesen sein, mit seinem
seltsamen Benehmen und seinen strengen Regeln zurechtzukommen. Sie würden
irgendwohin weiter weg ziehen, wenn sie es wollte, und er würde ihr alle Freiheiten
gewähren, die einer vernünftigen Siebzehnjährigen zustanden.
Er erinnerte sich daran, wie er sonntags morgens mitEve zusammen gejoggt war, damals, als er die Zeit und die Energie
für solche Dinge gehabt hatte. Sie hatte das Teenageralter erreicht und war
plötzlich zur Fitness-Fanatikerin geworden, ungefähr ein Jahr lang. Aber es hatte
ihm Spaß gemacht, der kleine private Raum ohne die Mutter, wenn sie zusammen am
Kanal entlangrannten oder an den alten verlassenen Gleisen bei Sale. Sie waren sich
richtig nahe gekommen, damals, als er sich noch um sie kümmern konnte, ohne sie
dabei zu ersticken.
Ja, genug ist genug.
Es ist vorbei.
Wenn er, oder irgendein anderer, Will Radley umbrachte,
würde er sich dann besser fühlen? Er wusste es nicht. Wahrscheinlich schon, aber
eigentlich wusste er nur, dass es schon zu lange dauerte und dass er Eve zu viel
zugemutet hatte und dass er damit aufhören musste.
Und dieser Gedanke beschäftigt ihn immer noch, als er in
Lowfield Close Nummer 15 den Schlüssel herumdreht, eintritt und die
Gemeinschaftstreppe hinaufsteigt. Noch bevor er die Wohnung betritt, spürt er, dass
etwas nicht stimmt. Es ist zu still.
»Eve?«, ruft er, legt seine Schlüssel auf das Sims im
Flur, neben einen roten Brief vom Wasserwerk in Yorkshire.
Er bekommt keine Antwort.
»Eve?«
Er geht in ihr Zimmer, aber da ist sie nicht: ihre Poster,
das schmale Bett, der offene Schrank, sie selbst aber nicht. All die vertrauten
Kleidungsstücke hängen auf Kleiderbügeln wie Geister.
Da liegt Make-up auf der Kommode, und der süße, chemische
Duft nach Haarspray hängt in der Luft.
Sie ist ausgegangen. An einem Montagabend.
Wo zum Teufel steckt sie?
Er stürzt zum Telefon. Er ruft ihr Handy an. Keine Antwort. Dann
entdeckt er den Zettel auf dem Wohnzimmertisch.
Dad,
bin mit Rowan Radley ins Kino gegangen. Glaube wirklich nicht, dass er
ein Vampir ist.
Eve.
O mein Gott, denkt er.
Panik überfällt ihn von allen Seiten. Der Zettel
entgleitet ihm, und bevor er den Teppich berührt, hat er die Autoschlüssel in der
einen Hand und tastet mit der anderen nach dem kleinen goldenen Jesus an seinem
Hals.
Raus, in den Regen.
Das zerschlagene Fenster. Eve hatte ihm gesagt, er müsse
sich um das Auto kümmern, aber er hatte nicht auf sie gehört.
Egal, jetzt hat er keine Wahl, und die Zeit rennt ihm weg.
Er öffnet die Wagentür, steigt ein, ohne die kleinen
Splitter von seinem Sitz wegzufegen, und fährt eilig los Richtung Thirsk.
[Menü]
IN EINER VERLORENEN WELT, DIE EINST IHR GEHÖRTE
Schmerz ist es eigentlich gar nicht, eher eine Art Auflösen. Als würde sie ihre Festigkeit allmählich verlieren und flüssig werden. Eve sieht sich um, betrachtet die Waschbecken und Spiegel. Die Kabinen und ihre offenen Türen. Die zerbrochene Flasche und die Pfütze mit dem Blut. Ihre Augenlider sind schwer und sie will schlafen, aber da ist ein Geräusch. Die automatische Spülung von einem der Urinale weckt sie
Weitere Kostenlose Bücher