Die Radleys
blinzelnd, als ihn die tief stehende Sonne über den vornehmen Häusern begrüßt.
Die von der Hauptstraße suggerierte verlangsamte und stille Welt wird hier noch langsamer und stiller. Vor den georgianischen Villen und Regency-Häusern aus einer Zeit, bevor Byron seinen ersten Tod simulierte, stehen überall blitzblanke und nichtssagende teure Autos in den Auffahrten. Sie sehen aus, als wären sie nur gebaut, um genau dort zu parken, nirgendwo hinzufahren und zufrieden über ihre technologischen Seelen zu sinnieren.
Eins ist ganz sicher, denkt er sich. Ein Camper aus Woodstocks Zeiten wird in dieser Gegend verdammt ins Auge stechen.
Er parkt am Straßenrand vor dem Haus auf einem schmalen Grasstreifen. Ein großes, geschmackvolles Gebäude, freistehend und zweistöckig, aber immer noch in Konkurrenz zu dem Nachbarhaus, das sogar noch größer ist. Er betrachtet den Minivan der Radleys. Genau das richtige Fahrzeug für eine normale, glückliche Familie. Ja, von außen bieten sie in der Tat das richtige Erscheinungsbild.
Vielleicht liegt es am Sonnenlicht, aber er fühlt sich schwach. Er ist nicht daran gewöhnt, um diese Uhrzeit wach zu sein. Vielleicht ist das hier ein Fehler.
Er braucht Energie.
Wie immer, wenn er sich so fühlt, greift er hinter sich und zieht den zusammengerollten Schlafsack hervor. Er greift in das warme Innere und zieht die Flasche mit dem tiefroten Blut heraus.
Er liebkost das Etikett, betrachtet seine eigene Handschrift.
Der heile und perfekte Traum in einer Flasche.
Er öffnet sie nicht. Hat er noch nie getan. Es hat nie eine Gelegenheit gegeben, die besonders oder verzweifelt genug gewesen wäre. Es reicht, sie nur anzuschauen, das Glas zu berühren und sich vorzustellen, wie es wohl schmecken würde. Wie es geschmeckt hat, vor all den vielen tausend Nächten. Etwa eine Minute später steckt er sie wieder in den Schlafsack, den er an seinen Platz zurückräumt.
Und dann lächelt er und verspürt einen zarten Hauch von Vorfreude, als ihm bewusst wird, dass er sie gleich wiedersehen wird.
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HÜBSCH
Clara sieht sich die Poster an der Wand an.
Den tragischen Basset.
Den Affen im Käfig.
Das Model mit dem bluttriefenden Pelzmantel auf dem Laufsteg. Die Fotos sind gestochen scharf. Sie betrachtet ihre Finger und kann die Halbmonde eines jeden einzelnen Nagels sehen, kann die Furchen in der Haut über den Gelenken zählen. Und sie verspürt nicht das geringste bisschen Übelkeit.
Genau genommen ist sie energiegeladen. Wacher denn je und erfüllt von pulsierendem Leben. Gestern Nacht habe ich Ha rper umgebracht. Eine entsetzliche Tatsache, aber sie ist nicht entsetzt. Es ist einfach eine Tatsache und ganz selbstverständlich, wie alles andere auch. Und schuldig fühlt sie sich deshalb auch nicht, schließlich hat sie nichts mit Absicht falsch gemacht. Außerdem: Wozu sind Schuldgefühle eigentlich gut? Zeit ihres Lebens hat sie sich ohne Grund schuldig gefühlt. Schuldig, weil sie ihren Eltern wegen ihrer Ernährung Sorgen gemacht hat. Schuldig, weil sie ab und zu den Müll nicht richtig trennte. Schuldig, weil sie Kohlendioxid eingeatmet und damit den Bäumen weggenommen hat.
Nein. Clara Radley wird sich nicht mehr schuldig fühlen.
Sie denkt über ihre Poster nach. Warum hat sie sichsolche hässlichen Sachen an die Wand gehängt? Warum sollte sie nicht stattdessen irgendwas Hübscheres aufhängen? Sie kniet auf ihrer Bettdecke und hängt die Poster ab.
Dann, als die Wand endlich kahl ist, amüsiert sie sich vor dem Spiegel, transformiert sich, sieht zu, wie ihre Eckzähne länger und spitzer werden.
Dracula.
Kein Dracula.
Dracula.
Kein Dracula.
Dracula.
Sie inspiziert ihre säbelförmigen weißen Reißzähne. Sie fasst sie an, drückt die Spitze in ihren Finger. Ein fetter roter Blutstropfen kommt zum Vorschein, glänzend wie eine Kirsche. Sie kostet ihn und genießt den Moment, bis sie ihre ganz normale menschliche Gestalt wieder annimmt.
Sie ist attraktiv, stellt sie fest, zum allerersten Mal. Ich bin hübsch. Und so verharrt sie, aufrecht und lächelnd und stolz, genießt ihr eigenes attraktives Aussehen, die zerknüllten Poster gegen Tierversuche zu ihren Füßen.
Eine weitere Veränderung ist ihr aufgefallen: Sie fühlt sich so leicht . Gestern und an all den Tagen zuvor hatte sie das Gewicht gespürt, das auf ihr lastete, und sie hatte sich geduckt und die Lehrer verärgert, weil sie die Schultern hängen ließ. Aber heute spürt sie überhaupt keine
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