Die Radleys
Schritte ihres Sohnes auf dem Flur.
»Es ist schon spät, Peter«, flüstert sie. »Lass uns einfach schlafen.«
Aber er hat sich jetzt richtig in Fahrt gezankt. Außerdem glaubt sie nicht, dass er sie überhaupt gehört hat. Er tobt einfach weiter und weiter, so laut, dass man überall im Haus jede einzelne Silbe versteht.
»Jetzt mal im Ernst«, sagt er, »wenn das alles ist, warum sind wir dann überhaupt noch zusammen? Denk mal darüber nach. Die Kinder werden zur Uni gehen, und dann bleiben nur noch wir beide übrig, eingesperrt in dieser blutleeren Farce einer Ehe.«
Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Sie weiß nur, wenn sie mit einem von beidem anfängt, wird sie nie mehr aufhören können.
Eingesperrt?
Ist es das, was e r gerade gesagt hat?
»Du hast doch wirklich keine Ahnung, Peter. Überhaupt keine Ahnung!«
Und in ihrer kleinen dunklen Höhle, die sie sich gerade aus ihrer Bettdecke gebaut hat, sehnt sich ihr außer Kontrolle geratenes Ich zutiefst nach jenem Gefühl von vor vielen Jahren, das sie sämtliche Probleme ihres Lebens vergessen ließ – Arbeit, die verzweifelten Besuche bei ihrem sterbenden Vaterund eine Heirat, von der sie nicht wusste, ob sie sie überhaupt wollte. Mit dem sie ein neues Problem schuf, ein viel größeres, hinten in dem verfluchten Campingbus. Es hatte sich nicht wie ein Problem angefühlt, damals nicht. Es hatte sich nach Liebe angefühlt, nach so viel Liebe, dass sie beinahe darin baden und alles andere hätte fortspülen können, um in die reine, behagliche Finsternis hinauszutreten und frei wie ein Traum weiterzuleben.
Und das Schlimmste ist, sie weiß, dass dieser Traum hier sitzt, draußen auf der Terrasse, Blut trinkt und darauf wartet, dass sie umschwenkt.
»Ach, ich habe also keine Ahnung?«, sagt Peter von irgendwoher über der Bettdecke. »Keine Ahnung? Ist das noch so ein Wettbewerb, bei dem du gewinnen willst? Der Wer-fühlt-sich-eingesperrt-Wettbewerb?«
Sie taucht wieder auf. »Hör endlich auf, dich so kindisch zu benehmen.« Sie ist sich der Ironie ihrer Worte bewusst, weiß, dass sie sich im Grunde genauso kindisch benimmt wie er, und sie weiß, dass es ihnen nie leichtgefallen ist, sich wie Erwachsene zu benehmen. Sie hatten sich dafür immer wappnen müssen, ihren sehnsüchtigen, kindlichen Seelen immer eine Art Panzer anlegen müssen.
»Verflucht noch mal«, sagt Peter langsam. »Ich versuche doch bloß, ich selbst zu sein. Ist das vielleicht ein Verbrechen?«
»Ja. Genau das ist es.«
Er stößt einen erstickten Schrei aus. »Und wie kann man von mir erwarten, mein Leben lang nicht ich selbst zu sein?«
»Das weiß ich nicht«, sagt sie wahrheitsgemäß. »Ich weiß es wirklich nicht.«
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JAHRTAUSENDE
Als Lorna Felt das raue Gesicht ihres Ehemanns an der Innenseite ihres Schenkels spürt, fragt sie sich, was eigentlich in ihn gefahren ist.
Sie liegen da, unter dem tantrischen Diagramm eines rechten Fußes in Pink und Gelb mit seinen Symbolen der Erleuchtung.
Die kleine Muschel und die Lotusblüte.
Sie liegen da, nackt im Bett, und Lorna genießt Marks Küsse und Lecken und Knabbern, weil er sie noch nie so geküsst oder abgeleckt oder angeknabbert hat.
Sie muss ihre Augen offen halten, um sicher zu sein, dass es sich um den Mann handelt, dessen Bettgeflüster sich normalerweise um die überfälligen Zahlungen seiner Mieter dreht.
Er legt sich auf sie. Sie küssen sich brutal und primitiv, wie sich die Menschen vermutlich vor Jahrtausenden geküsst haben, bevor Namen und Kleidung und Deodorants erfunden wurden.
Plötzlich fühlt sie sich so begehrt, ersehnt, während die warme, süße Lust mit jedem seiner Stöße stärker wird. Und sie hält daran fest – hält sich an ihm fest – mit einer Art Verzweiflung, krallt ihre Finger in seinen Rücken, schmiegt sich an seine salzige Haut wie ein Fels in tosendem Wildwasser.
Sie flüstert seinen Namen, wieder und wieder, und erflüstert ihren. Dann bleiben die Worte ganz aus, als sie ihn mit den Beinen umschlingt und sie nicht mehr »Mark« und »Lorna« sind oder »die Felts«, sondern grenzenlos und klar wie die Nacht.
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VERRÜCKT, BÖSE UND GEFÄHRLICH,IHN ZU KENNEN
Dehydrierung ist eines der Hauptsymptome, unter denen Rowan jetzt leidet, obwohl er einen ganzen Karton Apfelsaft mit Holunderblüte getrunken hat, bevor er ins Bett ging. Sein Mund ist trocken. Sein Hals verklebt. Seine Zunge fühlt sich wie ein formloser Tonklumpen an. Außerdem kann er
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