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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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und untröstliches Babygeschrei.
    Will schreckt aus dem Schlaf auf und hört ein seltsames, schwaches Quietschen. Es ist sein Kassettenrecorder, in dem sich eine seiner Einschlafkassetten verheddert hat. Psychocandy von The Jesus und Mary Chain. Ein weniger abgebrühter Blutsauger würde so etwas als schlechtes Zeichen interpretieren.
    Er späht nach draußen, sieht den unerbittlich sonnigen Tag. Und einen Mann, der sich entfernt.
    Es ist er.
    »Da geht der Mann mit der Axt«, murmelt Will und beschließt, ihm zu folgen.
    Er schnappt sich seine Sonnenbrille und geht hinaus in den hellen Tag, verfolgt den Mann den ganzen Weg bis zum Pub auf der Hauptstraße mit dem Sky-Sports-Banner und der gemalten Idylle eines veralteten Englands auf dem Schild unter dem Namen The Plough.
    Er hatte einmal ein albernes kleines Gedicht geschrieben, es einfach in eins seiner Tagebücher gekritzelt, kurz nachdem Helen ihn verlassen hatte. »Die rote Wiese« hatte er es genannt.
    Pflüg die rote Wiese,
Bis nichts mehr bleibt.
Pflüg, bis der Saft der Erde
in deine Venen treibt.
    Ein Pub wie den Plough würde Will unter normalen Umständen nicht einmal im Traum betreten. Eine Eckkneipe für Leute, die kaum mitkriegen, dass sie noch leben, und dumpf auf stumme Sportberichte starren.
    Bis er dort eintrifft, hat sich der Mann einen Drink geholt, einen Whiskey, und sich in die hinterste Ecke verkrochen. Will geht zu ihm und setzt sich auf den Platz ihm gegenüber.
    »Es heißt, dass Pubs allmählich aussterben«, sagt er und denkt an jene unblutigen Klippenspringer, die vor der unendlichen, unermesslichen Weite des Ozeans stehen und dann springen. »Passt nicht ins Leben des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Gibt keinen Gemeinschaftssinn mehr. Ist alles atomisiert. Sie wissen schon, die Leute leben in diesen unsichtbaren Kokons. Ist furchtbar traurig … aber es kommt trotzdem noch vor, dass sich zwei Fremde zu einem kleinen tête-à-tête zusammensetzen.« Er legt eine Pause ein und studiert das verwüstete, gehetzte Gesicht des Mannes. »Wobei wir natürlich keine Fremden sind.«
    »Wer bin ich?«, sagt der Mann mit einer gepressten Stimme, die seine Gefühle im Zaum hält.
    Die Frage ist ein Echo aus Wills Traum. Er senkt den Blick auf den Whiskey des Mannes. »Wer sind wir alle? Leute, die nicht loslassen können.«
    »Und was können wir nicht loslassen?«
    Will seufzt. »Die Vergangenheit. Gespräche von Angesicht zu Angesicht. Den Garten Eden.«
    Der Mann sagt nichts. Sitzt einfach da und starrt Will so hasserfüllt an, dass er die Luft zwischen ihnen damit infiziert. Die Spannung fällt auch nicht ab, als die Bedienung am Tisch erscheint.
    »Möchten Sie einen Blick auf die Karte werfen?«, fragt sie.
    Will bewundert ihr dralles Äußeres. Ein Festschmaus auf Beinen.
    »Nein«, sagt der Mann, ohne auch nur aufzublicken.
    Will nimmt Blickkontakt zu dem Mädchen auf und hält daran fest. »Ich schaue mir an, was ich esse.«
    Die Kellnerin geht, und die Männer verharren in gespannter, aber einvernehmlicher Wortlosigkeit.
    »Darf ich Sie was fragen?«, sagt Will, nachdem einige Zeit vergangen ist.
    Der Mann nippt an seinem Whiskey und antwortet ihm nicht.
    Will stellt die Frage trotzdem. »Waren Sie jemals verliebt?«
    Der Mann stellt das Glas ab und starrt ihn an, mit stahlhartem Blick. Die erwartete Reaktion. »Einmal«, antwortet er, das Wort kommt krächzend ganz hinten aus seiner Kehle.
    Will nickt. »Es passiert immer nur einmal, nicht wahr? Der Rest … alles andere sind Echos.«
    Der Mann schüttelt den Kopf. »Echos.«
    »Also, ich liebe jemanden. Ich kann sie aber nicht haben. Sie spielt die gute Ehefrau in einem Film über die Ehe eines anderen. Das Ganze ist eine Langzeitproduktion.« Will beugt sich vor, manisches Vergnügen blitzt in seinen Augen, dann flüstert er: » Die Ehefrau meines Bruders. Wirhatten mal ein ziemlich heftiges Ding zwischen uns laufen.« Er hält inne, macht eine entschuldigende Handbewegung. »Tut mir leid, wahrscheinlich sollte ich Ihnen das alles nicht erzählen. Es ist bloß so einfach, mit Ihnen zu reden. Sie hätten Priester werden sollen. Jetzt – zu Ihnen. Wer war es bei Ihnen?«
    Der Mann beugt sich vor, sein Gesicht zuckt unmerklich vor unterdrückter Wut. Irgendwo im Pub spuckt ein Spielautomat Münzen aus.
    »Meine Frau«, sagt der Mann. »Die Mutter meines Kindes. Sie hieß Tess. Tess Copeland.«
    Will verliert plötzlich die Kontrolle. Für einen Moment sitzt er wieder in diesem

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