Die Radleys
Spaniels und aggressiven Pitbulls sich in einem Revier zu behaupten versuchen, das sie niemals einnehmen können.
In einem Punkt sind sich die Mädchen und Jungen an diesem sonnigen Nachmittag einig: Sie meiden das alte viktorianische Schulgebäude und jeglichen Schatten. Clara Radley wäre normalerweise, an einem ähnlich gelagerten Tag in der Vergangenheit, ihren Freundinnen in das goldene Licht hinaus gefolgt und hätte sich größte Mühe gegeben, dass man ihr Migräne und Übelkeit nicht anmerkt.
Heute ist das anders. Obwohl sie heute nicht nur mit Eve, sondern auch mit Lorelei Andres zusammen ist, die niemand leiden kann, weil sie sich immer in denVordergrund spielen muss, führt heute Clara die beiden zu einer Bank im Schatten.
Sie setzt sich. Eve setzt sich neben sie, Lorelei ebenfalls, dann fährt sie Clara mit der Hand durchs Haar.
»Das ist unglaublich«, sagt Lorelei. »Sag mal, was ist bloß passiert?«
Clara schielt auf Loreleis Handgelenk mit den dicken blauen Venen und fängt den Duft ihres köstlich gehaltvollen Blutes auf. Sie ist erschrocken, wie einfach es wäre, gleich hier die Augen zu schließen und sich den Instinkten zu überlassen. »Weiß nicht«, sagt sie schließlich. »Ich hab meine Ernährung geändert. Und mein Dad hat mir so ein Vitaminpräparat verordnet.«
»Du siehst plötzlich ganz anders aus, einfach total heiß. Was nimmst du für eine Grundierung? Ist die von Mac? Bestimmt ist es irgendwas Teures wie Chanel oder so.«
»Ich nehme gar keine Grundierung.«
»Du willst mich verarschen.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Aber Kontaktlinsen hast du dir zugelegt, oder?«
»Nein.«
»Nein?«
»Und schlecht ist ihr auch nicht mehr«, ergänzt Eve. Clara fällt auf, dass sie sich über Loreleis plötzliches Interesse an ihrer Freundin ärgert. »Das ist die Hauptsache.«
»Vor allem hat mir anscheinend Vitamin A gefehlt. Das hat mein Dad gesagt. Und außerdem esse ich jetzt ein bisschen Fleisch.«
Eve ist verwirrt, und Clara weiß auch, warum. Hatte sie Eve nicht irgendwas von einem Virus erzählt? Sie fragt sich, ob Eves Dad ihr inzwischen die Wahrheit gesagt hat. Über die Radleys. Wenn ja, dann hat sie ihm offensichtlich nicht geglaubt, aber vielleicht kommen ihr ja mittlerweile Zweifel.
Clara hat auch noch andere Sorgen.
Mrs. Stokes’ eindringliche Worte über Stuart Harper heute Morgen bei der Andacht.
Die Schüler aus Farley im Bus.
Ihre streitenden Eltern in der vergangenen Nacht.
Rowan, der Blut trinkt.
Und die schlichte, unbestreitbare Tatsache, dass sie jemanden umgebracht hat. Was sie in ihrem Leben auch sagen würde, nichts könnte daran etwas ändern.
Sie ist eine Mörderin.
Und die ganze Zeit ist da diese oberflächliche Lorelei. Lorelei, die sie streichelt und vor sich hinplappert. Lorelei, die mit Hitler knutschen würde, wenn er sich den Schnauzer abrasieren und einen niedlichen Indie-Boy Haarschnitt und ein paar knallenge Jeans zulegen würde. Lorelei, das Mädchen, das wochenlang hungerte, nachdem sie bei einem Vorsprechen versagte, für eine Fernsehshow auf Viva mit dem Titel Teenagertraum Schönheitskönigin von Großbritannien – Zweite Staffel: Schick schlägt Langeweile.
»Du siehst einfach toll aus«, sagt sie.
Aber dann, während Lorelei sie weiterstreichelt, spürt Clara, dass noch jemand auf sie zukommt. Ein großer Junge mit einer makellosen Haut, in dem sie erst nach ein paar Sekunden ihren Bruder erkennt.
»O mein Gott, war bei den Radleys Verschönerungstag?«, fragt Lorelei.
Clara drückt sich an die Schulhauswand, als ihr frisch renovierter Bruder vor ihnen stehen bleibt und Eve mit besorgniserregendem Selbstbewusstsein direkt in die Augen blickt.
»Eve, ich muss dir etwas sagen«, erklärt er, ohne zu stottern.
»Mir?«, wundert sich Eve. »Was denn?«
Und dann hört Clara, wie ihr Bruder genau das tut, was sie ihm geraten hat. Wobei sie ihn jetzt mit den Augen anfleht, er möge aufhören zu reden. Er hört nicht auf.
»Eve, erinnerst du dich, wie du gestern – auf der Bank – gesagt hast, wenn ich etwas zu sagen hätte, sollte ich es einfach tun?«
Eve nickt.
»Also, ich wollte dir nur sagen, auf jede erdenkliche Weise, dass du das einzige und schönste Mädchen bist, das mir je begegnet ist.«
Lorelei unterdrückt ein Kichern, als er das sagt, aber die Röte auf Rowans Wangen bleibt aus.
»Und bevor du hierhergezogen bist«, fährt er fort, »hatte ich gar keine Vorstellung, was Schönheit eigentlich ist, das
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