Die Radleys
hält ihren Blick weiter auf ihr Buch gesenkt, möglicherweise bei dem Versuch, seine Verlegenheit zu mindern. Eine Verlegenheit, die sie schon einmal miterlebt hat, letzte Woche im Englischkurs, als er vorlesen musste, was Othello zu seiner Desdemona sagt (›L-l-let me see your eyes‹, hatte er in die Shakespeare-Schulausgabe geflüstert. ›L-l-look in my face.‹).
»Zwei Seelen«, sagt er und hört unterdrücktes Kichern. Und dann ist seine Stimme ganz allein da draußen, und zum ersten Mal fühlt er sich heute tatsächlich wach, aber es ist kein gutes Gefühl. Es ist die Wachsamkeit von Löwenbändigern und zögerlichen Gipfelstürmern, und er weiß, über ihm lauert die Katastrophe.
Überaus ängstlich schreitet er von einem Wort zum nächsten, wohl wissend, dass seine Zunge jederzeit etwas falsch aussprechen kann. Die Pause zwischen ›meiner‹ und ›Brust‹ dauert fünf Sekunden und diverse Lebenslängen, und seine Stimme wird mit jedem Wort schwächer, zittriger.
»Ich bin der Geist der st-stets verneint«, liest er.
Trotz seiner Nervosität spürt er eine seltsame Verbundenheit mit den Worten, als ob sie nicht zu Johann Wolfgang von Goethe gehören würden, sondern zu Rowan Radley.
Ich bin die Haut, die nie gekratzt.
Ich bin der Durst, der nie gelöscht.
Ich bin der Junge, der nichts kriegt.
Warum ist er so? Und was verneint er? Was würde ihn stark genug machen, um seiner eigenen Stimme zu trauen?
Eve hält sich an einem Kugelschreiber fest, den sie zwischen den Fingern rollt und so konzentriert im Blick behält, als wäre sie eine Seherin und der Kugelschreiber könnte ihr die Zukunft weissagen. Sie ist seinetwegen verlegen, er spürt es, und der Gedanke quält ihn. Er sieht Mrs. Sieben an, aber ihre hochgezogenen Augenbrauen sagen ihm, dass er weiterlesen muss, dass seine Folter noch nicht zu Ende ist.
»Entbehren sollst du!«, sagt er in einem Tonfall, dem jeder Hinweis auf das Ausrufezeichen fehlt. »Sollst entbehren!«
Mrs. Sieben unterbricht ihn hier. »Noch einmal, sag es mit Leidenschaft. Das sind leidenschaftliche Worte. Du verstehst sie doch, Rowan, oder? Also, noch einmal. Sag es lauter.«
Alle sehen ihn wieder an. Eve auch, eine oder zwei Sekunden lang. Sie genießen es, so wie die Leute Stierkämpfe oder grausame Gameshows genießen. Er ist der blutende, aufgespießte Bulle, dessen Qualen verlängert werden sollen.
»Entbehren sollst du«, sagt er noch einmal lauter, aber nicht laut genug.
»Entbehren sollst du!«, beschwört Mrs. Sieben. »Das sind starke Worte, Rowan. Sie brauchen eine starke Stimme.«
Sie lächelt freundlich. Was glaubt sie, was sie da tut?, fragt er sich. Charakterbildung?
»Entbehren sollst du!«
»Lauter! Mehr Begeisterung, noch einmal!«
»Entbehren sollst du!«
»Lauter!«
Sein Herz pocht und hämmert. Er liest die Worte und wird sie brüllen müssen, um Mrs. Sieben loszuwerden.
Entbehr en sollst du! Sollst entbehren!
Das ist der ewige Gesang!
Er holt tief Luft, schließt seine Augen, aus denen fast die Tränen fließen, und hört seine Stimme so laut wie nie zuvor.
Erst als er fertig ist, merkt er, dass er auf Englisch gebrüllt hat. Aus dem bisherigen erstickten Kichern wird schallendes Gelächter, und die Leute brechen hysterisch über ihren Pulten zusammen.
»Was ist daran witzig?«, erkundigt sich Eve verärgert bei Lorelei Andrews.
»Warum sind die Radleys bloß so irre ?«
»Er ist nicht irre.«
»Nein. Das stimmt. Auf einem Planeten mit lauter Freaks würde er überhaupt nicht auffallen. Ich hatte allerdings an die Erde gedacht.«
Rowan schämt sich nur noch mehr. Er sieht Loreleis karamellfarbene Haut und ihre boshaften Bambiaugen und stellt sie sich auf einem Scheiterhaufen vor.
»Gute Übersetzung, Rowan«, sagt Mrs. Sieben, um das Gelächter zu ersticken. Ihr Lächeln ist jetzt gütig. »Ich bin beeindruckt. Ich wusste nicht, dass du so präzise übersetzen kannst.«
Und ich erst recht nicht, denkt Rowan. Aber dann registriert er jemanden hinter dem Drahtglas der Tür. Jemand aus einer anderen Klasse schießt den Korridor entlang. Es ist seine Schwester, die zur Toilette rast, eine Hand auf den Mund gepresst.
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Peters vierzehnter Patient des Tages ist hinter dem schützenden Vorhang, um sich Hose und Unterhose auszuziehen. Peter bemüht sich, nicht darüber nachzudenken, was er bei der Untersuchung in den nächsten Minuten tun muss, während er den Latexhandschuh überstreift. Er
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