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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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sitzt einfach da und überlegt, wie er Clara dazu bringen kann, wieder Fleisch zu essen.
    Nervenschädigung?
    Anämie?
    Mangel an Vitamin B und Eisen kann in der Tat ernsthafte Gesundheitsschäden verursachen. Es gibt da ein Risiko, das noch nicht bestand, als die Kinder kleiner waren: Leute, die anderer Meinung sind als er, wie die Schulschwester, die bezweifelte, dass es Photodermatose sei, als Rowan sie wegen seines Hautausschlags befragte. Ist es das alles noch wert? Ist es all die Lügen wert? Ist es das wert, die Kinder kra nk zu machen? Das Teuflische daran ist, dass seine Kinder glauben, es sei ihm egal, dabei ist es in Wirklichkeit eher so, dass er sich keine Sorgen machen darf – jedenfalls nicht so, wie er gerne möchte.
    »Scheiße.« Er formt das Wort mit dem Mund, lautlos. »Verfluchte. Scheiße.«
    Natürlich ist Peter lange genug praktizierender Arzt, um zu wissen, dass Beschwichtigung auch schon eine Art Medizin ist. Er hat oft genug gelesen, dass Placeboeffekte undHerumtricksen mit dem guten Glauben tatsächlich funktionieren. Er kennt Studien, die belegten, dass Oxazepam bei der Behandlung von Angstzuständen besser funktioniert, wenn die Tablette grün ist, während sie bei Depressionen gelb sein sollte.
    Manchmal rechtfertigt er seinen Selbstbeschiss auf die gleiche Weise. Er färbt die Wahrheit ein wie eine Pille.
    Aber in letzter Zeit fällt ihm das immer schwerer.
    Während er dasitzt und auf den alten Mann wartet, glotzt ein Poster von seiner Pinnwand auf ihn herab, wie immer.
    Ein großer roter Blutstropfen in der Form einer Träne.
    Darunter in Blockbuchstaben die Worte des Blutspendedienstes: »SEI HEUTE EIN HELD. SPENDE BLUT.«
    Die Uhr tickt.
    Kleidung raschelt, und der alte Mann räuspert sich.
    »Gut«, sagt der alte Mann. »Das … ich bin … Sie können …«
    Peter schlüpft hinter den Vorhang, tut, was sein Job verlangt …
    »Da ist nichts, was da nicht hingehört, Mr. Bamber. Braucht bloß ein bisschen Creme, das ist alles.«
    Der alte Mann zieht seine Unterhose und seine Hose wieder an und sieht aus, als würde er gleich vor Scham weinen. Peter schält seinen Handschuh ab und lässt ihn sorgsam in dem kleinen Eimer verschwinden, der für solche Zwecke bereitsteht. Der Deckel klappt zu.
    »Wie gut«, sagt Mr. Bamber. »Ach wie gut.«
    Peter blickt dem alten Mann ins Gesicht. Sieht die Altersflecken, die Falten, das unordentliche Haar, die etwas getrübten Augen. Einen Moment lang schreckt ihn das Wissen um seine eigene Zukunft, die er sich selbst auferlegt hat, so sehr, dass er kaum sprechen kann.
    Er wendet sich ab und blickt auf ein weiteres Poster an derWand. Eines, das Elaine dort aufgehängt haben muss. Ein Bild von einem Moskito und eine Warnung für Urlauber vor Malaria.
    »EIN BISS GENÜGT.«
    Er bricht fast in Tränen aus.

[Menü]
    ETWAS BÖSES
    Claras Handflächen sind rutschig vom Schweiß.
    Sie spürt, dass etwas Furchtbares in ihr steckt. Irgendein Gift, das aus ihrem Körper entfernt werden muss. Etwas Lebendiges in ihr. Etwas Böses hat von ihr Besitz ergriffen.
    Einige Mädchen betreten die Toilette, und jemand versucht, die Tür zu ihrer Kabine zu öffnen. Clara verhält sich still und bemüht sich, gegen ihren Brechreiz anzuatmen, kann aber nicht verhindern, dass sie die Übelkeit in rasendem Tempo überkommt.
    Was geht mit mir vor?
    Sie erbricht sich noch einmal und hört Stimmen von außen.
    »Okay, Miss Bulimie, dein Mittagessen müsste inzwischen draußen sein.« Eine Pause. Dann: »Mein Gott, wie das stinkt .«
    An der Stimme erkennt sie Lorelei Andrews.
    Leises Klopfen ertönt an der Tür. Dann wieder Loreleis Stimme, aber freundlicher. »Ist alles in Ordnung mit dir da drin?«
    Clara hält inne. »Ja«, sagt sie.
    » Clara? Bist du da drin?«
    Clara antwortet nicht. Lorelei und noch jemand kichern.
    Clara wartet, bis sie gegangen sind, dann spült sie das Erbrochene hinunter. Draußen im Flur lehnt Rowan an denWandfliesen. Es tut ihr gut, ihn zu sehen, den Einzigen, den sie im Moment noch ertragen kann.
    »Ich hab gesehen, wie du über den Flur gerannt bist. Geht’s wieder?«
    Toby Felt geht genau in diesem Moment vorbei und bohrt ihm dabei seinen Tennisschläger ins Kreuz. »Ich weiß, dass du dich nach ein bisschen Abwechslung sehnst, Lahmarsch, aber sie ist deine Schwester . So was tut man einfach nicht.«
    Rowan fällt keine Antwort dazu ein, oder jedenfalls keine, die er laut auszusprechen wagt.
    »Der ist so ein Idiot«, sagt Clara schwach.

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