Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
des Postal-Teams bei den großen europäischen Rennen 1996
ins Auge sehen zu müssen: Wir wurden niedergemacht.
Das Problem war nicht, dass wir verloren;
es ging um die Art und Weise, wie wir verloren. Man
kann seine Leistung bei einem Radrennen in etwa so bewerten wie eine
Klassenarbeit in der Schule. Fährt man mit der Spitzengruppe über die
Ziellinie, bekommt man eine Eins: Man hat zwar nicht gewonnen, wurde aber zu
keinem Zeitpunkt abgehängt. Kommt man mit der Verfolgergruppe an, gibt’s eine
Zwei – das war zwar nicht großartig, aber alles andere als schlecht; man hat
nur einmal abreißen lassen. Gehört man zur dritten Gruppe, erhält man eine
Drei, und so weiter. Jedes Rennen besteht aus einem Haufen kleinerer Rennen,
aus Wettbewerben im Wettbewerb, bei denen es immer nur eine von zwei
Möglichkeiten gibt: Man hält mit – oder eben nicht.
Das Postal-Team fuhr nur Vieren und Sechsen ein. In Amerika hatten
wir stets ziemlich gut abgeschnitten, aber unsere Leistungen bei den großen
europäischen Rennen schienen stets demselben Muster zu folgen: Das Rennen
begann, das Tempo zog an, es wurde schneller und immer schneller. Schon nach
kurzer Zeit konnten wir kaum noch mithalten. Intern bezeichneten wir uns selbst
als »Füllmaterial«, denn unsere einzige Aufgabe bestand offenbar darin, die
letzte Gruppe des Pelotons aufzufüllen. Wir hatten keine Siegchance, keine
Chance, Attacken zu fahren oder den Rennverlauf auf irgendeine nennenswerte Art
zu beeinflussen; wir waren schon dankbar, wenn wir nur ins Ziel kamen. Das lag
daran, dass die anderen Fahrer
unglaublich stark waren. Sie trotzten den Gesetzen der Physik – und
des Radsports. Sie taten Dinge, die ich noch nie gesehen hatte oder mir auch
nur hätte träumen lassen.
Sie konnten beispielsweise allein ausreißen und sich stundenlang ein
Verfolgerfeld vom Leib halten. Sie konnten mit verblüffender Geschwindigkeit
klettern, selbst die großen Kerle, die gar nicht wie Bergspezialisten aussahen.
Sie konnten Tag für Tag Bestleistungen abliefern, ohne die üblichen
Leistungsspitzen und schwächeren Phasen. Sie waren wie Zirkusathleten.
Bjarne Riis war für mich der Fahrer, der aus dem ganzen Feld
herausragte, ein 1,82 Meter großer, 70 Kilo schwerer Däne mit dem Spitznamen
»der Adler«. Riis war kahlköpfig und hatte intensive, blaue Augen, die nur
selten einmal blinzelten. Er redete wenig, und wenn er sprach, klang es meist
recht kryptisch. Er konzentrierte sich mit solcher Intensität, dass es manchmal
wirkte, als sei er in einer Art Trance.
Aber das mit Abstand Seltsamste an Riis war der Verlauf seiner
Karriere.
Riis war die meiste Zeit ein ordentlicher Radrennfahrer gewesen: Er
fuhr solide, war aber kaum einmal Anwärter auf eine vordere Platzierung
gewesen. Aber dann, 1993, mit 29 Jahren, wandelte sich dieser
Durchschnittsprofi zu einem unglaublichen Fahrer. Bei der Tour 1993 wurde er Fünfter
und gewann eine Etappe; 1995 belegte er den dritten Platz. Manche Experten
glaubten, dass er 1996 vielleicht sogar Miguel Indurain entthronen könnte, den
amtierenden König der Grande Boucle, der sie ab 1991 fünfmal nacheinander
gewonnen hatte.
Ich erinnere mich an eine der ersten Gelegenheiten, bei denen ich
ihn aus nächster Nähe erlebte, es war im Frühjahr 1997. Wir fuhren in
mörderischem Tempo eine brutale Steigung hinauf, und Riis arbeitete sich in der
Gruppe nach vorn, wobei er eine gewaltige Übersetzung bewegte. Wir anderen
mühten uns im üblichen Rhythmus von etwa 90 Umdrehungen pro Minute ab, doch
dann kommt Bjarne angeschossen und begnügt sich mit 40 Umdrehungen, ohne dabei
auch nur eine Miene zu verziehen. Er fährt einen Gang, der für mich hier
unvorstellbar wäre. Dann begreife ich: Der trainiert doch nur. Wir anderen
fahren uns die Seele aus dem Leib, versuchen entweder zu gewinnen oder
zumindest nicht den Anschluss zu verlieren, und er trainiert !
Als Riis vorbeizog, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen: »Hey, wie
läuft’s?«, nur um zu sehen, ob er reagierte. Er schenkte mir einen seiner
stechenden Blicke und fuhr weiter.
Wenn man Riis sah und dann noch Dutzende von Riis-ähnlichen
Gestalten, die das Peloton bevölkerten, fragte man sich unweigerlich, was da
eigentlich los war. Ich war zwar neu, aber ich war kein Idiot. Ich wusste, dass
einige Radrennfahrer dopten. Ich hatte in VeloNews etwas darüber gelesen – wenn auch, in dieser Zeit vor dem Internet, nur in
begrenztem Umfang. Ich hatte von anabolen
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