Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
ich wusste, dass ich bei einem Streit mit Lance nur den
Kürzeren ziehen konnte.
Anfang 2001 trafen sich einige vom A-Team zu einem frühen
Trainingscamp auf Teneriffa, einer der Kanarischen Inseln vor der Küste
Afrikas. Es war mal wieder eine von Lance’ McGyver-Aktionen – ein Telefonanruf,
ein Flug mit dem Privatjet und Geheimhaltung, sogar vor dem Rest des Teams. Nur
Lance und ich waren dabei mit den drei neuen spanischen Jungs, außerdem Johan,
Ferrari und zwei Betreuer.
Teneriffa als abgelegen zu bezeichnen, ist noch gelinde ausgedrückt.
Die Insel besteht aus roten staubigen Felsen, die sich als Kulisse für Filme
wie Die Reise zum Mittelpunkt der Erde eignen. Wir
wohnten in einem großen leeren Hotel auf der Spitze eines Vulkans. Ich teilte
mein Zimmer mit Roberto Heras, und fast zwei Wochen lang taten wir nichts
anderes als radfahren, schlafen und essen. Ferrari hatte seine Tochter
mitgenommen, einen mageren, dunkelhaarigen Teenager, der aussah wie eine
Miniaturversion von Michele. Ich weiß noch, dass wir am Tisch saßen, während
uns zwei Ferraris beobachteten und jeden Bissen verfolgten, den wir aßen.
Auch Lance beobachtete. Er behandelte uns oft, als wären wir
Verlängerungen seines Körpers, besonders wenn es ums Essen ging. Im Team
erzählte man sich noch immer von einem Vorfall zwei Jahre zuvor in Belgien, als
Lance sich während eines Trainingscamps ein Stück Schokoladenkuchen gegönnt
hatte. Es muss ein ziemlich guter Kuchen gewesen sein, denn Lance aß noch ein
zweites Stück. Und dann, unfassbar, aß er ein drittes. Die anderen
Postal-Fahrer sahen ihm zu und ahnten schon, was sie erwartete. Am nächsten Tag
war leichtes Training angesetzt. Doch der Kuchen änderte das. Stattdessen trieb
Lance das Team zu einer brutalen fünfstündigen Fahrt, um einen Kuchen
abzutrainieren, den nur er gegessen hatte. Wenn er sündigte, musste das ganze
Team dafür büßen.
Die Jungs aus der Armada erwiesen sich als nett: Chechu Rubiera war
ein echter Gentleman und ein ehemaliger Jurastudent; Victor Hugo Peña war ein
kräftiger Kolumbianer mit einem Hai-Tattoo auf der linken Schulter und einer
eisernen Arbeitsmoral; Roberto Heras war ein ruhiger, jungenhafter Typ, der
kaum drei Worte sprach. Eines Nachts auf Teneriffa sagte er schließlich einen
ganzen Satz.
Er fragte: »Wie schüttet ein Radprofi Zucker in seinen Kaffee?«
Wir schüttelten die Köpfe. Roberto nahm ein Zuckerpäckchen in die
Hand und schnippte mit dem Finger dagegen, als schnippe er gegen eine Spritze.
Alle lachten sich tot.
Wir fuhren täglich fünf bis sieben Stunden durch diese rote
Mondlandschaft. Jeden Abend kehrten wir in das menschenleere Hotel zurück (es
war Nebensaison). Wir fühlten uns wie in The Shining. Wir aßen in einem leeren Speisesaal. Wir liefen durch die Gänge. Roberto
versuchte zu sagen: »Mir ist scheißlangweilig.« Aber er sprach nicht sehr gut
Englisch, und so sagte er: »Ich bin scheißlangweilig.« Das wurde das Motto für
unseren Aufenthalt: Ich bin scheißlangweilig.
Aber wir langweilten uns nicht nur. Michele baute uns mit Mikrodosen EPO alle zwei Tage auf, üblicherweise abends. Daher
mussten wir auf der Hut sein, falls ein Tester auftauchte. (Wir wussten, dass
das sehr unwahrscheinlich war angesichts der Entfernung und der Anreisekosten,
aber trotzdem.) An einem Nachmittag entdeckte Lance einen Unbekannten in der
Hotellobby, der nicht wie ein Tourist aussah, Fragen stellte und sich umsah.
Lance rannte zur Hintertür des Hotels. Wie sich herausstellte, war der Mann
Reporter einer örtlichen Zeitung, der gehört hatte, dass wir dort waren, und
auf ein Interview spekulierte.
Wir kehrten erschöpft von Teneriffa zurück, bereit für die Saison.
Die Frühlingsrennen liefen gut für mich. Dann, im April, hatte ich Pech: Ich
stürzte bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und brach mir den Ellenbogen. Ich
wünschte, es wäre bei etwas Dramatischem passiert, aber es war ein typischer
blöder Unfall. Mein Vordermann stürzte, und ich fuhr in ihn hinein. Im einen
Moment war ich auf dem besten Weg zu einer erfolgreichen Frühjahrssaison, und
im nächsten war mein Arm in Gips. Ich beschloss, für ein paar Wochen zur
Erholung nach Marblehead zurückzukehren. Ich sollte dann planmäßig Mitte Mai zu
den Tour-Trainingscamps zurückkehren und mich auf meine große Chance bei der
Tour de Suisse vorbereiten. Ich war aufgeregt wegen der Schweiz, weil Johan mir
erzählt hatte, ich solle bei dieser Rundfahrt die Rolle des
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