Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
reichte der Einfluss der Bibliothekarin Childress sogar bis hierher.
Er sprach ein stilles Dankgebet an Gott, Gabriel und die Geheimgesellschaft der Bibliothekare.
Der Neumond war fast verschwunden und spendete kaum Licht. Schließlich rollte ein Karren auf Hethor zu – ein seltsames, rechteckiges Gefährt, das selbst in dieser tiefen Dunkelheit noch schimmerte. Als es vor Hethor stehen blieb und ihm der Duft von Sägemehl und Politur in die Nase stieg, wurde ihm klar, dass seine nächste Mitreisegelegenheit ein nagelneuer Leichenwagen war.
»Spring schon auf«, sagte ein Junge, dessen Stimme sehr hoch klang. »Wenn du ein Freund vom alten Le Roy bist und mitgenommen werden willst, ist das der Vierspänner, der dich bis ans Ende der Welt bringt.«
Es war zwar eher ein Zweispänner, aber Hethor musste über den Witz lächeln, als er sich die Eisenstufen hinauf zum Fahrersitz zog, der nach Leder roch, aber raschelte, als er sich setzte. »Bin noch nie auf einem solchen Wagen gefahren«, sagte er.
»Das hoffe ich sehr«, entgegnete der Junge. »Die meisten Leute fahren nämlich nur ein einziges Mal mit. Pass auf die Druckerschwärze auf. Die Zeitung schützt den Sitz. Der Wagen ist gerade erst gebaut worden. Ich soll ihn über die Massachussetts-Landstraße nach Foxboro bringen. Dauert zwei Tage.«
In diesem Augenblick bemerkte Hethor, dass der Junge eine junge Frau war. Er hatte es nicht an ihrer Stimme oder an der Kleidung erkannt, die unordentlich und knabenhaft war, soweit er es in der Dunkelheit sehen konnte. Es lag eher daran, wie sie roch und wie sie mit den Zügeln in der Hand auf dem Sitz saß, die Knie zu eng beieinander und zu weit nach vorne gebeugt.
Ein Mädchen. In Hethors Leben gab es keine Mädchen, nicht bei Meister Bodean, nicht an der Lateinschule in New Haven. Und nun saß er allein mit ihr in der Dunkelheit ... Was erwartete sie wohl von ihm? Hethor spürte, wie sein Gesicht rot anlief und dankte den Schatten, die sie umgaben.
»Ich ... ich ...« Ihm fehlten die Worte.
»Mach dir keine Gedanken. Wenn du keinen Kratzer in den Lack oder die Verzierungen machst, bekommst du keine Probleme. Le Roy hat mir ein Pfund für dein Essen zugesteckt, also werden wir es uns gut gehen lassen. Es war ein englisches Pfund, weißt du, nicht eins von unseren amerikanischen.«
Le Roy hatte ihr ein Pfund zugesteckt? Jemand schien sich tatsächlich um ihn zu kümmern. Bibliothekarin Childress hatte ihm ein unverhofftes Geschenk gemacht, indem sie ihm das Kennwort des Albino-Tukans genannt hatte. Am Lagerfeuer in Hartford hatte es ihm einen großen Gefallen erwiesen. Wer waren diese Leute? Diese Bauern, Bibliothekare und das junge Mädchen, das den Karren fuhr?
»Ich heiße Darby.«
Sie hatte eine freundliche Stimme. Da Hethor wusste, dass es keine Jungenstimme war, klang sie nun auch gar nicht mehr so seltsam hoch. Sie war nun mal ein Mädchen, ein Wesen, mit dem ein Junge schmusen konnte, wenn er viel Glück hatte. Sie könnte vielleicht sogar ...
Der ungewisse, aber überaus angenehme Gedankengang fand ein schnelles Ende, als sich Hethors gesunder Menschenverstand durchsetzte. Bei Gott, ein Mädchen fuhr den Wagen! Hethor wollte ihr die Zügel entreißen und sie beide davor retten, mit dem Karren im nächsten Graben zu landen, was unweigerlich geschah, wenn ein Mann dumm genug war, einer Frau das Fahren zu erlauben. Zugleich aber regte sich in Hethor die Erinnerung an die Tüchtigkeit von Bibliothekarin Childress.
Die immer noch auf ihn achtgab, diesmal in Gestalt von Darbys englischer Pfundnote.
Vielleicht lag er bei den Frauen genauso falsch, wie Pryce und Faubus bei ihm falsch gelegen hatten. Allerdings waren Frauen flatterhaft, hysterisch und unzuverlässig – sie hatten nun mal ihre Tage. Jeder Junge wurde davor gewarnt; wenn nicht im Unterricht, dann hinter vorgehaltener Hand. Es handelte sich um simple Biologie und war keine Sache von Rang und Ansehen, die zu jener Überheblichkeit und Aufgeblasenheit führen konnte, mit der Pryce Hethor verdammte.
Dieselbe Aufgeblasenheit, die mich in Gegenwart des Vizekönigs verdammen wird, dachte Hethor betrübt.
»Soll ich fahren?«, fragte er schließlich mit einer Stimme, die zwischen einem Quietschen und einem Keuchen lag. Sein Gesicht glühte noch immer.
»Fährst du so etwas denn häufiger? Ich tue das nur ein paar Mal im Monat.«
Hethor wollte sagen: »Nein, aber ich bin ein Mann.« Doch dazu fehlte ihm der Mut. »Ich ... Ich dachte, ich könnte
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