Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
heran, schob Hethor mit den Fingerspitzen zur Seite und überflog die losen Blätter mit Hethors Berechnungen. Er las ein paar Sekunden lang, sah zum Himmel auf und wandte sich ihm dann zu. Seine wachen braunen Augen blitzten böse.
»Du hast im Navigatorennest deine eigenen Berechnungen angestellt.«
Es war keine Frage.
»Ja, Sir«, sagte Hethor. Sollte er Malgus jetzt von Gabriel und dem Schlüssel der Ewigen Bedrohung berichten – und der Abweiv chung der Mitternacht? »Es gibt da einige Dinge, die mich neugierig gemacht haben.«
»Neugier gehört sich nicht für einen einfachen Matrosen.« Malgus nahm sich die Notizen, faltete sie säuberlich zusammen und steckte sie in seine linnene Uniformjacke. »Ich weise dich wieder der Decksdivision zu. Du kannst deine Neugier damit befriedigen, Spieren abzuschleifen, oder welche Aufgabe Bootsmann Lombardo sonst für dich haben sollte.«
»Sir ...«
»Nein.« Malgus’ Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Lass deine Finger davon.« Er klopfte leicht auf die ausgebeulte Stelle seiner Jacke, unter der sich die Notizen verbargen. »Tu es zu deinem eigenen Besten, wenn schon für sonst niemanden.«
Hethors Rücken juckte, denn die noch heilenden Wunden schienen sich auf weitere Peitschenhiebe einzurichten. »Ja, Sir.«
»Such dir ein ruhiges Plätzchen, wo du was zu trinken kriegst, Matrose, und sei rechtzeitig zur Morgendämmerung am Kahn, bevor er ablegt.«
Hethor wollte al-Wazir und die anderen Matrosen, die beinahe zu seinen Freunden geworden waren, auf keinen Fall sehen. Stattdessen traf er einige der Marineinfanteristen, die auf der Bassett mitfuhren und genüsslich eine Bar auseinandernahmen, die ihr Missfallen erregt hatte. Hethor machte einfach mit, obwohl er nicht einmal betrunken war. Er genoss es, Gläser zu zerschmettern und sich lautstarker, gut gelaunter Gesetzlosigkeit hinzugeben; so etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht getan.
Nachher kauften die Soldaten ihm eine Flasche Gin und einen Affen. Den Gin kippte Hethor sich allein hinter die Binde; den Affen schenkte er einem einäugigen Sklaven, der sich vor ihm zu verbeugen versuchte.
***
Am nächsten Tag hatte Hethor so heftige Kopfschmerzen, dass sie seinen abheilenden Rücken vergessen ließen. In stummer Qual kratzte er Farbe von den Vorderdeck-Luftabwehrlafetten, als die Schiffsmannschaft plötzlich laut zu schreien begann. Sie hatten Georgetown vor etwa zwei Stunden verlassen und fuhren die dschungelüberwucherte Küste entlang. Hethor blickte über die Reling auf Baumspitzen, die wie von einer mächtigen Geisterhand geschüttelt zu werden schienen. Der braune Ozean schwappte hin und her wie Wasser in einem Becken.
»Erdbeben, verdammt!«, rief jemand.
Hethor folgte mit seinen Blicken der Rundung des Tragkörpers gen Süden, wo der düstere Schatten der Äquatorialmauer hoch über ihnen glitzerte wie funkelnde Diamanten am Himmel.
Was konnte er hören? Sich selbst, die Männer, das Schiff, ein Ächzen und Grollen unter ihnen – war das der Ozean? Und unter all diesen Geräuschen waren die Laute der Welt zu vernehmen, die ins Stottern geriet.
Das Grollen erwies sich als riesige Woge, deren Höhe sich von oben schlecht bestimmen ließ: Der Ozean ergoss sich über die bewaldete Küste, verschlang ganze Küstenstriche und strömte weit landeinwärts. Hell glitzernde Vogelschwärme flogen panisch auf; sie sahen aus wie Sterne, die in den grünen Tiefen aufleuchteten, während die leisen Schreie von Affen bis zu ihnen hinauf drangen.
Im Westen war eine gewaltige Explosion zu hören.
Hethor blickte über das Hauptdeck des Schiffes, über das Poopdeck und das Steuerruder hinweg. Vor dem westlichen Himmel entdeckte er eine hoch lodernde Flamme: Die Wasserstoffvorräte in Georgetown mussten in Brand geraten sein.
Hethor versuchte sich zu erinnern, ob außer der Bassett an einem anderen Mast noch ein Luftschiff vor Anker gelegen hatte, aber an diesem Morgen war es ihm so schlecht ergangen, dass er sich für kaum etwas anderes interessiert hatte als für sich selbst. Er stellte sich vor, von einem brennenden Luftschiff ins Meer zu springen, mit flammender Kleidung und loderndem Haar, um dann im Wasser beobachten zu müssen, wie sich der Tragkörper, einer brennenden Wolke aus Leinen gleich, langsam auf ihn herabsenkte.
Hethor vermisste Meister Bodean in diesem Augenblick schmerzlich, die Schlichtheit seiner Uhren, das präzise Zählen der Stunden und sein eigenes schmales Bett in der
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