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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Engel getroffen, der mir sagte, dass ich Sie aufsuchen sollte.« Und der meiner Flucht damit einen Sinn gab.
    Die Chiaroscuro-Innengestaltung von Hethors Haus verlieh ihrem Gespräch etwas Unwirkliches, als ob sie Schattenmenschen in einer Schattenwelt wären. Die Fenster gaben den Blick auf helle Orte auf der anderen Seite frei, aber hier drinnen herrschte die Traumwelt mit ihrem eigenen Mikrokosmos.
    Hethor nickte und wandte seine Aufmerksamkeit dann Ming zu. »Und Sie, Sir?«
    Ming zuckte mit den Achseln, und Paolina antwortete für ihn. »Ein chinesischer Luftmatrose von dem Luftschiff, der mich rettete, als mein Luftschiff in den Indischen Ozean abstürzte.«
    »Mich überrascht nichts mehr.« Hethor spielte mit einem fein geschnitzten Holzstück in seinen Händen und verlagerte das Gewicht in seinem Stuhl. Paolina bemerkte in diesem Augenblick mit Entsetzen ebenso wie Mitgefühl, dass die Beine des jungen Engländers unterhalb der Knie abgetrennt waren. Er sah zu ihr auf und bemerkte, wohin sie blickte. »Ja. Ich habe meine Füße gegen mehr Lebenserfahrung eingetauscht, als sie ein junger Mann besitzen sollte. Nun bin ich an diesem Ort eingesperrt, wo dieses mühsam erworbene Wissen niemanden in Gefahr bringen kann.« Selbst im Halbschatten dieses Zimmers wirkte sein Lächeln sorgenschwer. »Sie sind die Ersten, die zu mir kommen.«
    »Ich kannte Sie nicht«, antwortete sie. »Auch jetzt kenne ich Sie noch nicht.«
    »Erinnern Sie sich daran, als vor zwei Jahren die Welt so stark erzitterte, dass ganze Küstenstriche von schweren Flutwellen verwüstet wurden?«
    Paolina nickte. Die kleine Fischfangflotte ihres Dorfs war bei diesen Überschwemmungen zerstört worden, was in gewisser Hinsicht zu ihrem Weggang aus Praia Nova geführt hatte. »Die Mechanismen der Welt liefen unrund. Die Zeit lief ab.«
    »Sie wissen es!« Hethor schien überrascht. »Niemand hat das verstanden. Nun, ich bin derjenige, der die Weltordnung wieder reparierte.«
    Das Ausmaß seiner Aussage verdutzte sie. Dass ein Junge – er konnte nicht viel älter sein als sie – in der Lage war, das Uhrwerk von Gottes Schöpfung in Ordnung zu bringen, war eigentlich undenkbar.
    Außer natürlich, es handelte sich um die reine Wahrheit. Er war ein englischer Junge, der tief im Dschungel südlich der Mauer lebte, wo kein Engländer hätte sein dürfen, egal welchen Alters. Er wurde von Engeln beobachtet und lebte inmitten eines Dorfes ihn verehrender Krieger.
    Aber noch wichtiger war, dass sie hier war, so unwahrscheinlich dies schien.
    »Alles hat einen Sinn«, sagte Paolina leise.
    Hethor schien ihrem unausgesprochenen Gedankengang folgen zu können. »Ich habe sehr lange über genau diese Frage nachgedacht. Ich habe eine vernünftige Ausbildung erhalten, und mein Wissen in allen Fragen des Göttlichen ist außergewöhnlich, doch abgesehen davon bin ich ein ganz normaler Mensch.« Er legte sein geschnitztes Holzspielzeug mit einem leisen Klacken auf seinen Arbeitstisch. »Die ganze Schöpfung ist ein Uhrwerk. Jeder Bestandteil bewegt sich unaufhaltsam gemäß seiner Aufgaben, genau wie das Zahnradgetriebe eines Chronometers, und das praktisch aus demselben Grund. Wenn aber die Bestandteile einer Uhr nicht allein die Stunde schlagen und sich ein unabhängiges Schicksal oder Bewegungsfreiheit wünschen können, wie kommt es dann, dass wir uns als Teil von Gottes Schöpfung vorstellen können, frei zu sein? Unsere Rollen und Schicksale müssen genauso vorbestimmt sein wie das einer jeden Antriebsfeder oder Ankerhemmung.«
    »Das kann nicht wahr sein.« Ihre Antwort war ein Reflex, ein Impuls, der tief in ihr steckte. »Ich hebe meine Hand.« Sie ballte ihre linke Hand zu einer Faust. »Ich senke meine Hand. Das ist mein Wille, und die Welt dreht sich weiterhin, ob ich mich nun bewege oder nicht.«
    »Eine Uhr schreitet voran, ob das juwelenbesetzte Uhrwerk sich im Licht oder in den Schatten befindet«, antwortete Hethor. »Der Staub, der vom Pendel herabfällt, hat keinen Einfluss auf seinen Schlag.«
    Paolina ließ sich auf das Argument ein. »Wir sind kein Staub.«
    »Natürlich sind wir das.« Er klang überrascht. »Steht das nicht so in der Bibel? Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden.«
    »Sie haben eindeutig nie einer Geburt beigewohnt«, sagte Paolina, vielleicht schneidender, als sie es beabsichtigte. »Staub, ja, aber wir bestehen zum größten Teil aus Fleisch und Blut. Ich habe bei einem Neugeborenen noch nie

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