Die Räder des Lebens
Lügen zur Mörderin werden lassen. Und was hätten Sie gemacht, wenn ich nicht nach Straßburg gefragt hätte, Sir? Wenn die Schwilgué-Uhr als Köder nicht meine Aufmerksamkeit erregt hätte?«
Seine Stimme klang eiskalt. »Ich hätte Sie dorthin gebracht, wenn ich Sie für würdig eingeschätzt hätte, und dann den Schweigsamen Orden entscheiden lassen, was das Beste für Sie ist.«
Paolina hielt sich im Zaum, nicht auszusprechen, was ihr auf der Zunge lag. Sich mit dem Kapitän anzulegen, würde ihr überhaupt nicht helfen. Stattdessen schlug sie einen anderen Weg ein. »Ich bin auch keine Waffe, Sir. Ich möchte nicht, dass Sie oder der Schweigsame Orden oder sonst jemand für mich festlegt, was das Beste für mich ist. Wenn ich ein bewegliches Gut sein wollte, dann hätte ich in Praia Nova bleiben können. Die fidalgos dort wussten ganz bestimmt, was das Beste für mich war. Man musste sie einfach nur fragen.«
»Lassen Sie mich Ihnen etwas erklären.« Auch Sayeed schien sich beherrschen zu müssen. »Sie sind eine Frau, meine Liebe. In den Länden des Empire bedeutet das, dass Ihr Vater, Ehemann oder Bruder das letzte Wort bei allem haben, was Sie tun. Wenn es weder Familie noch Ehemann gibt, müssen verantwortungsbewusste Männer diese Aufgabe übernehmen. Das entspricht sowohl dem Gesetz als auch unseren Traditionen. Sie können sich dagegen wehren so sehr Sie wollen, aber wenn Sie Ihre Freiheit haben wollen, dann wären Sie vielleicht besser an der Mauer geblieben.«
»Ich gehöre keinem Mann«, schrie sie ihn an.
»Alle Frauen gehören zu einem Mann!«, brüllte er zurück. »Das ist die Ordnung aller Dinge.« Mit diesen Worten ließ er sie wütend zurück.
Paolina saß eine Weile neben dem Kabelgatt, schmollte und plante kindische Vergeltung. Sie könnte die Motoren der Notus anhalten, aber was sollte das bringen? Sie könnte wahrscheinlich sogar Sayeeds Herz zum Verstummen bringen, aber dieser Gedanke war ihr selbst in ihrem Zorn zuwider. Er war auch nicht schlimmer als all die anderen Kerle hier, auch wenn das kaum für ihn sprach.
Sie wünschte sich, ihn besonders schlimm an der Ruhr erkranken lassen zu können. Oder ihn im Lauf des Mondzyklus vier Tage bluten und weinen zu lassen.
Männer waren der grundlegende Fehler in Gottes Schöpfung, das war eindeutig. Wenn er die Frau zuerst erschaffen hätte, hätte er einfach aufhören können, und dann wäre die Welt in wesentlich besseren Händen gewesen.
Sie blieb in Marseille an Bord.
Die Notus erreichte den Landemast bei Tagesanbruch, und Paolina betrachtete begeistert den gesamten Vorgang. Der Hafen verfügte über zwölf Ankermasten, die in der Nähe des betriebsamen Hafenviertels standen, und auf dem Wasser drängten sich zahlreiche große und kleine Schiffe. Viele von ihnen machten sich zum täglichen Fischfang auf, als das Luftschiff über ihren Köpfen kreiste und sich in den Wind legte, um die richtige Höhe zu erreichen.
Die Masten standen auf einem niedrigen Hügel östlich des Hafens. Ihre Sockel waren von einer freien Fläche umgeben, die offensichtlich geräumt worden war, aber noch Zeichen alter Straßen und Gebäude aufwies. Sie fragte sich, ob es zu einem Wasserstoffbrand gekommen war, oder ob die Royal Navy einfach alles hatte abreißen lassen, um einen solchen zu verhindern.
Die Stadt erstreckte sich in alle Richtungen – vor ihnen befand sich das Hafenviertel, an das sich ein Bezirk mit Gebäuden anschloss, die mindestens so groß waren wie alles, was sie in Karindiras Stadt oder Ophir gesehen hatte. Dahinter lagen über mehrere Kilometer verteilt kleinere Bauten.
Hier gab es mehr Menschen, als sie auf der gesamten Welt gesehen hatte. Selbst Ophir, das ihr so fremd und riesig erschien, war nicht so groß und ausufernd gewesen. Die riesigen Ankermasten, an denen die Notus andockte, unterbrachen die grenzenlose Ausdehnung der Menschen kaum, die wie Schwalben auf einer Felswand zusammenhockten.
Sie konnte die Stadt vom Deck aus riechen. Sie schwebten ungefähr fünfundvierzig Meter über dem Ankermasthügel und waren etwa vierhundert Meter vom Rand des Luftschifffelds entfernt. Aus dieser Nähe vermischten sich Kohle- und Kochfeuer mit Essensgerüchen und Dreck zum ganz besonderen Duft einer Stadt voller Menschen; eine komplexe Note, die Paolina in ihrem gesamten Leben noch nie in die Nase gestiegen war. Und die sie sich auch nie hatte vorstellen können.
Die Besatzung machte das Schiff mit Hilfe der Männer am Ankermast
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