Die Räder des Lebens
Perfektion gebracht. Sie wusste ganz genau, wann sich ihre Schritte verlangsamten.
Immerhin erhielt sie dadurch eine Gelegenheit, ihrem leisen Geplapper zu lauschen.
Die flüchtigen Blicke fanden nur dann ein Ende, wenn Kapitän Leung neben ihr Platz nahm oder der Politoffizier draußen im Durchgang stand.
»Sind die Umstände Ihren Wünschen entsprechend, Maske?«, hatte er sie am zweiten Tag auf See gefragt.
Childress trug nun eine alte blaue Uniform. Es wirkte außerordentlich würdelos, aber es war immer noch besser, als das blutverschmierte Kleid vom Tage ihrer Entführung zu tragen. Der Steward hatte sich mehrfach verbeugt und ihr etwas ausführlich auf Chinesisch erklärt, bevor er es weggebracht hatte. Sie hoffte, dass ihr Kleid gereinigt und geflickt werden würde, oder wenn das nicht ging, dann wenigstens verbrannt – aber sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, was damit geschehen war.
»Ich würde gerne vernünftige Kleidung tragen«, sagte sie entschieden, »die meinem Rang entspricht. Und obwohl Ihr heimisches Essen auf gewisse Weise bezaubernd ist, so wäre eine vernünftige Mahlzeit, die eine Engländerin wiedererkennen kann, durchaus wünschenswert.« Das waren Aussagen, die die Maske Poinsard sicherlich von sich gegeben hätte – und mit denen sie gerade noch leben konnte.
Leung starrte sie ungerührt an, ein wenig zu lang für ihren Geschmack. Der Politoffizier lungerte wieder vor der Tür herum. »Es tut mir sehr leid, aber wir werden vermutlich keinen Ihrer Wünsche erfüllen können«, sagte der Kapitän. Er stellte einen kleinen Bücherstapel auf den Tisch. »Das hier ist ein Elektrizitätshandbuch, das auf Englisch geschrieben ist. Mein geschätzter Bordtechniker würde es gerne am Ende unserer Fahrt zurückerhalten, denn er schätzt es als wertvolles, wenn auch unverständliches Souvenir. Außerdem ein Andachtsbuch und zwei Postkarten aus Singapur. Das sind alle englischsprachigen Texte an Bord meines Schiffs.«
»Ich bin sicher, dass sie mich ausreichend unterhalten werden«, sagte Childress. »Darf ich sie in meine Kabine mitnehmen?«
»Natürlich.« Leung zögerte kurz, vielleicht weil er nach den richtigen Worten suchte. »Sollte Ihnen ein Gespräch angenehm sein, dann würde es meinem Englisch stets helfen, wenn ich mich darin ein wenig üben könnte.«
»Ihr Englisch ist bereits jetzt schon besser als das Englisch der meisten Untertanten Ihrer Majestät«, lautete ihre höfliche Reaktion. Höflich, aber wahr.
Es wurde ihm in den nächsten Tagen zur Gewohnheit, eine ihrer Mahlzeiten gemeinsam mit ihr einzunehmen. Manchmal geschah nicht viel mehr als ein Nicken, wenn er anderweitig beschäftigt war; manchmal führten sie ein Gespräch.
»Die Gefederten Masken haben im Himmlischen Kaiserreich durchaus Anhänger«, sagte er eines Morgens zu ihr.
»Natürlich.« Childress ließ sich von den verdammenswerten kleinen Essstäbchen irritieren. Es fiel ihr sehr schwer, mit ihnen Reis zu essen, aber sie wollte nicht nach einer Gabel fragen. »Der avebianco ist überall.« Sie dachte an den Politoffizier, an sein Handzeichen und seinen Gruß. Sie hatte Leung davon noch nichts gesagt. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie das noch tun würde.
»Ihre Philosophie ist für einige Traditionalisten durchaus attraktiv.«
»Ich wusste nicht, dass die Chinesen an die Allmacht Gottes, unseres Herren, glauben.«
»Nicht die Art Traditionalist.« Er lachte leise. »Kurz gesagt ist der Kaiser der Himmelssohn. Die Himmelsstruktur lässt sich durch sorgfältige Betrachtung der Messingarbeiten am Himmel erkennen. Das Wesen der Schöpfung bestimmt den Kaiser, so wie der Kaiser sein Volk bestimmt.«
»Wie verstehen Sie die Schöpfung?« Sie war sehr neugierig – Gottes Werk war immerhin unbestreitbar, auch wenn das Ausmaß seines Engagements für die Schöpfung Grundlage zahlreicher theologischer und praktischer Überlegungen war.
»Die Welt wurde erschaffen«, sagte Leung. »Aber wo ihr Europäer ein großes, übergeordnetes Wesen mit der Allmacht der Verantwortung seht, mit der Vernunft der Allwissenheit sozusagen, sehen wir am Himmelszelt ein ewiges Gleichgewicht. Dieser hier erschuf den Mond, der andere hing die Lampen der Sterne in ihren Laufbahnen auf, während der nächste das Antlitz von Tag und Nacht so formte, dass die Menschen entstehen konnten.«
»Das sind keine großen Unterschiede.« Childress schob Schweinefleischstücke auf ihrem Teller hin und her. »Sie haben nur die
Weitere Kostenlose Bücher