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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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al-Wazir und Hornsby hatte mit den Offizieren der Wallachian Prince konferiert und einen Brief formuliert, in dem sie angesichts ihrer anfänglichen Verluste in dringlichen Worten weitere Arbeiter und Soldaten anforderten. Niemand von ihnen hätte auch nur andeutungsweise zugegeben, dass sich die Expedition in wirklicher Gefahr befand.
    Er betrachtete das Lager und sah von den Dampfbohrern zum gigantischen Bauwerk von Gottes Schöpfung hinauf. Al-Wazir hatte sich bei zumindest einer Sache getäuscht – sie hatten hier am Fuß der Mauer tatsächlich Sonne, wenn auch nur wenige Stunden. So gesehen war das Wetter fast wie zuhause – nass, finster, zwischendurch ein wenig Sonne. Allerdings war es hier über vierzig Grad heiß. Das hatte wenig mit England zu tun.
    Doch zuweilen wehte von der Mauer eine kühlende Brise zu ihnen hinab und lockerte den beständigen Griff der unerträglichen Hitze. Als er die hin- und herwogenden, in der Sonne funkelnden Baumspitzen unter sich betrachtete und dem braunen Lauf des Mitémélé folgte, erkannte er die Schönheit Afrikas, das in einem Winkel von neunzig Grad von der himmelhohen Kathedrale abbog, die die Mauer für ihn darstellte. Im Norden lag unerträgliche Hitze, über ihm kühlender Schatten, und die großen schwarzen Bohrer waren bereit, mit ihrem Zerstörungswerk zu beginnen.
    Ihre beträchtliche Größe war hier aus einer anderen Perspektive zu sehen. Die Maschinen in dem Steinbruch in Kent hatten missmutig, sogar bösartig gewirkt. Im direkten Vergleich zur Mauer wirkten sie so winzig, dass al-Wazir Schwierigkeiten hatte, sie sich als Werkzeuge ihrer Zerstörung vorzustellen.
    Ottweill stieg über eine Leiter auf einen seiner geliebten Bohrer. Der Professor bevorzugte immer noch maßgeschneiderte Anzüge, die nach al-Wazirs Meinung unerträglich warm sein mussten; aber immerhin hatte selbst Ottweill seine Krawatte aufgegeben.
    »Morgen werden wir den Bohrer Nummer eins an den Fels setzen«, sagte er al-Wazir und tätschelte die stählerne Flanke.
    »Um mit dem Tunnel selbst zu beginnen?«
    »Noch nicht. Das wird ein Testlauf. Wir müssen den Bohrer auf Maximalleistung bringen und wieder anhalten und dabei sicherstellen, mit welcher Beschaffenheit wir es bei dieser Felswand zu tun haben. Auch die Gleise müssen kontrolliert werden. Alles, außer dem eigentlichen Tunnel. Den fangen wir erst am Tag danach an.«
    »Ich werde hier sein, auf der Palisade stehen und nach Feinden Ausschau halten«, versprach ihm al-Wazir.
    »Ich hatte gehofft, dass Sie mich im Fahrerhaus von Nummer Eins begleiten. Nur für das erste Teilstück.«
    Al-Wazir dachte an die enge Luke, die in das gepanzerte Fahrerhaus führte. Diesen Sarg in die Tiefen der Erde zu jagen, war zu weit von seinem Wunsch entfernt, auf einem Luftschiff den Himmel zu durchqueren. »Nein, ich glaube nicht. Aber ich fühle mich sehr geehrt, Sir.«
    »Nun gut«, sagte Ottweill. »Jeder Mann muss wissen, mit welchem Mut er ausgestattet ist.«
    Es tat ihm beinahe gut, den Professor wieder zu alter Form auflaufen zu sehen.
    Childress
    Sie wich dem Politoffizier so oft aus, wie es ihr möglich war. In ihrer Kajüte zu bleiben war die einfachste Lösung, aber sie war zweimal am Tag gezwungen, ihre Mahlzeit in der Offiziersmesse einzunehmen. Manchmal war der kleine Mann dabei, manchmal nicht. Nun, sie sind praktisch alle kleine Männer, dachte sie. Bei knapp ein Meter fünfzig konnte man sie kaum als Riesin bezeichnen, aber in dieser Umgebung kam sie sich regelrecht groß vor.
    In der engen Offiziersmesse konnten maximal vier Personen Platz nehmen, die von einem Steward in blauer Uniform bedient wurden. Sie erhielt stets eine winzige Schüssel Tee, eine winzige Schüssel Suppe, eine winzige Schüssel Reis und eine winzige Schüssel mit etwas Gebratenem, das von Tag zu Tag wechselte und unterschiedlich gewürzt wurde. Alle vier Gerichte waren immer kochend heiß, obwohl es in der Five Lucky Winds ansonsten immer feucht und kalt war. Auf den Schotts und den Luken bildeten sich stets eiskalte Wassertropfen.
    Die Männer der Bootsbesatzung kamen einzeln oder zu zweit an ihrer Tür vorbei und warfen ihr heimliche Blicke zu, wenn sie glaubten, dass sie nicht zu ihnen hinübersah. Sie hatte jahrzehntelang mit Theologiestudenten arbeiten müssen – einer schlimmeren Schurkenbande aus kleingeistigen und selbstgefälligen Häretikern hätte man wohl kaum begegnen können – und ihre Fähigkeit, Dinge aus den Augenwinkeln zu erkennen, zur

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