Die rätselhaften Worte
Was bedeutet das?«
Wieder reagierte Pascoe auf die Dringlichkeit, nicht auf die Widersetzlichkeit, und sah nach.
»Grau oder braun gezeichnet«,
sagte er. »Im Dialoggedicht hieß es
›but wasn’t white‹,
nicht weiß, erinnern Sie sich? Wenn jetzt nur … Hat? Sind Sie noch da? Alles in Ordnung? Hat!«
Aber Hat hörte ihn nicht. Er sah einen Kopf mit dichtem, kastanienbraunem Haar und einer silbergrauen Strähne. Und noch etwas anderes flackerte über seine Netzhaut, wie Lichtblitze, die eine Migräne ankündigen.
1576
Das war keine Jahreszahl. Sondern ein Datum.
I have a date,
hatte es im Gedicht geheißen.
1.5.76
Der erste Mai 1976.
Ryes Geburtstag.
Das Schwein hatte ihnen mitgeteilt, daß sie die nächste ist. Und er war zu blind gewesen, es zu kapieren!
»Hat? Was geht da vor sich? Ist Dee zu Hause? Hat!«
»Nein, ist er nicht«, schrie Hat, der fünf Stufen auf einmal überspringend die Treppe hinabrannte. »Er ist zum Stangcreek Cottage rausgefahren. Und er hat Rye mitgenommen.
Hasweed,
das ist sie, sie hat doch diese Strähne, und geboren ist sie am ersten Mai sechsundsiebzig – 1576, erinnern Sie sich?«
»Hat, warten Sie dort, ich bin unterwegs. Warten Sie, das ist ein Befehl.«
»Leck mich«, schrie Hat in sein Handy.
Er warf es auf den Beifahrersitz, ohne es abzuschalten, und Pascoe, der nun die Treppen des Kulturzentrums beinahe so rasch hinabflog wie sein junger Kollege, hörte die Gänge krachen, Reifen quietschen und den Motor aufheulen, als der MG losbrauste.
[home]
Sechsundvierzig
D er Sessel, in dem sie wie ein Strahlenthron saß, glomm auf im Feuerschein.
Spielerisch tasteten ihre Finger über die verschlungenen Schnitzereien der Armlehnen, bis sie zu den unerwartet harten Schwellungen der Löwenköpfe gelangten.
Sie lächelte Dick Dee an, der vor ihr auf dem dreibeinigen Schemel saß. Zwischen ihnen lag ein aufgeklapptes Paronomania-Brett, das wie eine exotische mittelalterliche Karte des Kosmos aussah.
»Wirst du den mitnehmen?« fragte sie. »Den Stuhl, meine ich?«
»Er ist nicht mein Eigentum, nicht im strikten Sinne des Wortes zumindest.«
»Und bist du bei der Wahl deiner Worte immer ganz strikt, Dick?«
»Strikt«, sinnierte er. »Von
strictus,
Partizip Perfekt von
stringere,
ziehen oder festbinden. Ein Kontronym, natürlich …«
Er schwieg und sah sie abwartend an.
Sie ließ sich darauf ein und fragte: »Ein was?«
»Ein Kontronym. Eines jener interessanten Wörter, die ihr eigenes Gegenteil bedeuten können. Wie
übersehen, umfahren, abdecken.«
Rye überlegte einen Moment und meinte dann: »Bei denen kann ich es verstehen, aber strikt?«
»In Schottland wird
strict
auch im Sinn von
schnell, rasch
verwandt, besonders in bezug auf fließende Gewässer. So kann ich also sagen, ich bin auf die eine oder andere Weise strikt bei der Wahl meiner Worte.«
»Und wirst du den Stuhl jetzt behalten?«
»Im Sinne von bewahren, ja. Als ich ihn einmal Geoffrey gezeigt habe, hat er mich in seiner großspurigen Art gebeten, ihn als Geschenk anzusehen – wenngleich ich bezweifle, daß meine unbezeugte Erinnerung vor Gericht Bestand haben könnte. Ich fürchte, du bist in Gefahr, defloriert zu werden, meine Liebe.«
Rye sah auf das Brett. Nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit hatte sie das Wort
azalea
gelegt. Dee kreuzte es nun am
l
mit
genitalia,
dann entfernte er vorsichtig ihre übrigen Spielsteine.
»Die Reimregel habe ich dir doch erläutert, oder?« sagte er. »Wenn man ein Wort mit einem Reimwort kreuzt, dann erhält man die Punktzahl für beide Wörter und hat das Recht, die Buchstaben des Mitspielers für den eigenen Gebrauch einzusammeln, wenn man will.«
»Aber das heißt ja, daß du wieder mein
azalea
legen könntest, wenn du an der Reihe bist«, erwiderte sie mit gespielter Empörung.
»So ist es. Es wäre also klug von dir, meine
genitalia
irgendwie zu blockieren.«
»Das mache ich schon, keine Angst. Wenn ich gewußt hätte, daß du mich hierher eingeladen hast, um mich zu deflorieren, wäre ich nie mitgekommen.«
Tatsächlich hätte sie beinahe nein gesagt.
Als Dick Dee ihr nach Percy Follows’ Beerdigung erzählt hatte, daß er Stangcreek Cottage ausräumen wolle, hatte sie gefragt: »Du willst es aufgeben? Ärger mit dem neuen Vermieter?«
»Da bislang noch nicht mal feststeht, wer das überhaupt ist, nein, bis jetzt nicht. Ich habe nur Schwierigkeiten mit meinem Verhältnis zu diesem Ort. Seitdem war ich erst einmal da, und ich
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