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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Speck zuwirft. Und was den Hahn angeht, mit den Augen eines wahnsinnigen Propheten und dem wütenden Gehabe eines Fanatikers und seinem Kamm und seinen Kehllappen, die er stolz wie Genitalien vor sich herträgt, so ist er ein unerträglicher Autokrat, der ihre Gummistiefel attackiert, sobald er denkt, daß sie gerade nicht hinsieht.
    Charis ist das alles völlig egal; sie läßt den Hühnern alles durchgehen. Sie liebt sie! Sie hat sie vom ersten Augenblick an geliebt, seit sie ankamen und aus den Futtersäcken herauspurzelten, in denen sie gebracht wurden, und ihre Engelsfedern schüttelten. Sie findet, daß sie ein Wunder sind. Sie sind eins.
    Im Inneren des Hühnerhauses tastet sie im Stroh der Boxen herum, in der Hoffnung, Eier zu finden. Im Juni sind die Hühner fast geplatzt vor Eiern, haben zwei am Tag gelegt, riesige, milchige Ovale mit doppelten und dreifachen Dottern, aber jetzt, wo der Winkel der Sonne immer flacher wird, haben sie sehr nachgelassen. Ihre Federn und Halslappen sind stumpfer geworden; mehrere von ihnen sind in der Mauser. Es gelingt ihr, ein Ei zu finden, ein einziges, ziemlich kleines Ei mit rauer Schale. Sie steckt es in die Brusttasche ihres Overalls; sie wird es Billy zum Frühstück geben.
    Wieder in der Küche, zieht sie die Stiefel aus; behält den Overall aber an, weil ihr kalt ist. Sie schiebt noch ein Stück Holz in den Ofen und wärmt sich die Hände. Soll sie erst selbst frühstücken oder lieber warten, bis Billy zum Frühstück herunterkommt 7 Soll sie ihn wecken? Manchmal ist er wütend, wenn sie es tut, und manchmal ist er wütend, wenn sie es nicht tut. Aber heute ist ihr Stadttag, und wenn sie ihn jetzt weckt, kann sie ihm sein Frühstück vorsetzen, bevor sie die Fähre nehmen muß. Auf diese Weise wird er den Vormittag nicht verschlafen und ihr später Vorwürfe machen.
     
    Sie geht die Treppe hinauf und auf leisen Füßen durch den Flur; als sie die Tür erreicht, bleibt sie einen Augenblick stehen, nur um zu schauen. Sie sieht Billy genauso gerne an, wie sie ihre Hühner ansieht. Auch Billy ist schön; und so wie die Hühner das Wesen ihres Huhn-Seins sind, ist Billy das Wesen seines Billy-Seins. (So wie die Hühner ist auch er inzwischen ein wenig zerzauster als damals, als sie ihn kennenlernte. Auch das könnte etwas mit dem Winkel der Sonne zu tun haben.)
    Er liegt auf der Matratze, den Schlafsack bis unters Kinn gezogen. Den linken Arm hat er über die Augen gelegt; die Sonnenbräune darauf wird allmählich blasser, auch wenn er immer noch dunkel ist, dieser Arm, und bedeckt mit kurzen, goldenen Härchen, so wie eine Honigbiene mit Pollen bedeckt ist. Sein kurzer, gelber Bart leuchtet in dem weißen Zimmer, im seltsamen Licht des Nebels von draußen -  heraldisch, der Bart eines Heiligen, oder eines Ritters auf einem alten Bild. Oder wie etwas auf einer Briefmarke. Charis liebt es, Billy in solchen Augenblicken zu beobachten, Augenblicken, in denen er ruhig und still ist. Es ist dann einfacher, das Bild zu bewahren, das sie von ihm hat, einfacher, als wenn er redet und sich bewegt.
    Billy scheint ihren sengenden Blick zu spüren. Sein Arm löst sich von seinen Augen, die Augen selbst öffnen sich, was für ein Blau! Wie Vergißmeinnicht, wie ferne Berge auf Ansichtskarten, wie dickes Eis. Er lächelt sie an und entblößt seine Wikingerzähne.
    »Wie spät ist es?« sagt er.
    »Ich weiß nicht«, sagt Charis.
    »Du hast doch eine Uhr, oder?« sagt er. Wie kann sie ihm die Sache mit dem Nebel erklären? Oder daß sie keine Zeit hat, auf die Uhr zu sehen, weil sie ihn ansehen muß? Sehen ist keine beiläufige Angelegenheit. Es nimmt ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
    Er stößt einen kleinen Seufzer aus, einen Seufzer des Unmuts oder des Verlangens, es ist so schwer, den Unterschied zu erkennen. »Komm her«, sagt er.
    Es muß Verlangen sein. Charis geht zur Matratze, setzt sich neben Billy, streicht ihm die Haare aus der Stirn, Haare, die so gelb sind, daß sie wie gemalt wirken. Sie ist immer noch erstaunt darüber, daß diese Haare nicht abfärben. Ihre eigenen Haare sind auch blond, aber von einem ganz anderen Blond, blaß und ausgebleicht, Mond im Vergleich zu seiner Sonne. Billys Haare leuchten von innen.
    »Ich habe her gesagt«, sagt Billy. Er zieht sie auf sich, sucht ihren Mund, umschlingt sie mit seinen goldenen Armen, drückt sie fest an sich.
    »Das Ei!« sagt Charis atemlos, als es ihr einfällt. Das Ei zerbricht.

30
    So war Billy, damals. Er

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