Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
dasselbe: daß Billy glücklich war.
     
    Charis liegt unter dem Schlafsack, auf einen Ellbogen gestützt, und berührt sanft das Gesicht von Billy, der die Augen geschlossen hat und vielleicht dabei ist, wieder einzuschlafen. Vielleicht wird sie eines Tages ein Baby bekommen, Billys Baby; es wird aussehen wie er. Sie hat schon oft darüber nachgedacht – wie es einfach passieren würde, ohne Entscheidung, ohne Plan, und wie er dann bei ihr bleiben würde, einfach immer weiter bei ihr bleiben, und wie sie hier weiterleben würden, so wie jetzt, für immer. Es gibt sogar ein kleines Zimmer, das das Baby haben könnte. Im Augenblick ist es voller Sachen – ein Teil der Sachen gehört Billy, aber der größte Teil Charis, denn trotz ihres Vorsatzes, sich nicht von materiellen Dingen fesseln zu lassen, hat sie mehrere Pappkartons, die voll sind davon. Aber sie könnte die Sachen wegschaffen und eine kleine Wiege aufstellen, mit Kufen darunter, oder einen Wäschekorb aus Weide. Kein Gitterbettchen; nichts, was Stangen hat.
    Sie fährt mit den Fingern über Billys Stirn, seine Nase, seinen sanft lächelnden Mund; ohne daß er es weiß, sind diese Berührungen nicht nur sanft, nicht nur liebevoll, sondern auch besitzergreifend. Obwohl er kein Gefangener ist, ist er in gewisser Weise ein Kriegsgefangener. Es ist der Krieg, der ihn hierher geführt hat, der Krieg, der ihn zwingt, sich zu verstecken, der Krieg, der ihn zwingt, hier zu bleiben. Sie kann nicht anders, sie sieht ihn nun einmal als einen Gefangenen; ihren Gefangenen, denn sein Leben hier hängt einzig und allein von ihr ab. Er gehört ihr, und sie kann mit ihm tun und machen, was sie will, er gehört ihr ebenso, als wäre er ein Besucher von einem anderen Planeten, der auf der Erde in dieser Kuppel aus künstlicher, interplanetarischer Luft gefangen ist, die ihr Haus ist. Wenn sie ihn wegschickte, was würde dann aus ihm werden? Er würde geschnappt werden, deportiert, zurückgeschickt, dorthin, wo die Luft schwerer ist. Er würde implodieren.
    Er könnte genausogut von einem anderen Planeten stammen, denn er stammt aus den Vereinigten Staaten; nicht nur das, sondern aus einem unbestimmten, esoterischen Teil dieser Vereinigten Staaten, der für Charis ebenso geheimnisvoll ist wie die dunkle Seite des Mondes. Kentucky? Maryland? Virginia? Er hat in jedem dieser drei Staaten gelebt, aber was bedeuten diese Namen? Für Charis nichts, sie weiß nur, daß sie an den Süden grenzen, ein Wort, das ebenfalls keinen soliden Inhalt hat. Charis hat ein paar Bilder im Kopf, die mit diesem Süden verbunden sind – Herrenhäuser, Glyzinien, und, vor langer Zeit, Rassentrennung – sie hat Filme gesehen, in ihrem anderen Leben, als sie noch nicht Charis war-, aber Billy scheint weder in einem Herrenhaus gelebt noch die Rassen getrennt zu haben. Im Gegenteil, sein Vater wurde fast aus der Stadt gejagt (welcher Stadt?), weil er das war, was Billy »liberal« nennt, aber etwas völlig anderes ist als die soliden, orthodoxen, glattgesichtigen und austauschbaren Liberalen, die mit derart lähmender Monotonie auf den Torontoer Wahlplakaten auftauchen.
    Die Vereinigten Staaten liegen natürlich gleich auf der anderen Seite des Sees, und an klaren Tagen kann man sie fast sehen – eine Art Linie, eine Art Dunst. Charis ist sogar schon einmal dort gewesen, als sie mit der High-School einen Ausflug zu den Niagarafällen machten, aber dieser Teil des Landes sah enttäuschend ähnlich aus; nicht wie der Teil, aus dem Billy stammt und der sehr seltsam sein muß. Seltsam, und gefährlicher – soviel ist klar – und vielleicht deswegen überlegen. Die Dinge, die dort geschehen, scheinen in der Welt zu zählen. Anders als die Dinge, die hier geschehen.
    Und so läßt Charis ihre Finger über Billy gleiten, mit einem kleinen Triumphgefühl, denn hier ist er, in ihrem Bett, in ihren Händen, ihr höchstpersönliches mythologisches Wesen, sonderbar wie ein Einhorn, ihr höchstpersönlicher, gefangener Kriegsdienstflüchtling, Teil tausender Schlagzeilen, Teil der Geschichte, untergetaucht in ihrem Haus, dem Haus, für das sie allein den Mietvertrag unterschreiben mußte, weil niemand Billys Namen erfahren oder wissen darf, wo er ist. Einige der Kriegsdienstflüchtlinge haben ein Visum, andere – wie Billy – haben keins, und wenn man erst einmal in diesem Land ist, kann man kein Visum mehr bekommen, man muß über die Grenze zurückgehen und es von dort beantragen, und dann würde man

Weitere Kostenlose Bücher