Die Räuberbraut
ihr Onkel und legte seine fleischige Hand auf ihren Arm. Er dachte, daß sie kämpfte. Vielleicht tat sie das. Schließlich verwandelte sie sich in Charis und verschwand und tauchte woanders wieder auf und ist seitdem immer woanders gewesen. Nachdem sie zu Charis wurde, war sie härter, hart genug, um durchzukommen ; aber sie trägt immer noch weiche Kleider: fließende, indische Musselinkleider, lange, geraffte Röcke, geblümte Schals, Tücher, die sie um sich herumdrapiert.
Ihre eigene Tochter dagegen hat sich für Hochglanz entschieden. Lackierte Fingernägel, dunkle Haare, die mit Gel in einen glänzenden Helm verwandelt werden, aber kein Punk-Look: effizient. Sie ist zu jung für diesen metallischen Glanz, sie ist erst neunzehn. Sie ist wie ein Schmetterling, der, bevor er seinen Kokon richtig abgestreift hat, schon zu einer emaillierten Anstecknadel erstarrt ist. Wie soll sie sich je entfalten ? Ihre spröden Kostüme, ihre adretten kleinen Soldatenstiefel, ihre säuberlichen Listen in kantiger Computerschrift brechen Charis das Herz.
August, so hat Charis sie genannt, weil sie im August geboren wurde. Laue Lüfte, Babypuder, träge Hitze, der Duft von frischgemähtem Heu. So ein sanfter Name. Zu sanft für ihre Tochter, die hinten ein a angehängt hat. Jetzt heißt sie Augusta – ein völlig anderer Klang. Marmorstatuen, römische Nasen, gebieterische, verkniffene Lippen. Augusta studiert im zweiten Semester Wirtschaftswissenschaften an der Western University, Gott sei Dank hat sie ein Stipendium, weil Charis nie im Leben das Geld gehabt hätte, ihr das Studium zu bezahlen; die Tatsache, daß Charis bei allem, was mit Geld zu tun hat, so vage ist, ist für Augusta ein weiterer Grund zur Klage.
Aber trotz des ständigen Geldmangels wurde Augusta immer gut genährt. Gut genährt, gut versorgt, und jedesmal, wenn Augusta zu Besuch nach Hause kommt, kocht Charis ihr eine nahrhafte Mahlzeit mit viel blättrigem Grün und ausgewogenen Proteinen. Sie macht Augusta kleine Geschenke, Säckchen mit Rosenblättern, Sonnenblumenkekse, die sie mit an die Uni nehmen kann. Aber es scheinen nie die richtigen Dinge zu sein, sie scheinen nie genug zu sein.
Augusta sagt, Charis soll sich endlich zusammenreißen, sonst wird sie, wenn sie alt ist, zu einer Bag Lady werden. Sie geht Charis’ Schränke und Kommoden durch und wirft die Kerzenstummel weg, die Charis gesammelt hat, um neue Kerzen daraus zu machen, irgendwann, wenn sie dazu kommt, und die Seifenreste, aus denen sie neue Seife kochen wollte, und die Wollreste, aus denen sie Christbaumschmuck machen wollte, bloß daß sie leider die Motten bekommen haben. Sie fragt Charis, wann sie die Toilette das letzte Mal saubergemacht hat, und befiehlt ihr, das Gerümpel in der Küche wegzuschmeißen, womit sie die Büschel aus getrockneten Kräutern meint, die Charis jeden Sommer so liebevoll züchtet und die – ein wenig angestaubt, aber immer noch brauchbar – an den unterschiedlich großen Nägeln hängen, die den oberen Teil des Fensterrahmens zieren, und den Drahtkorb für Eier und Zwiebeln, in dem Charis ihre Handschuhe und Schals ablegt, und die von Oxfam stammenden Topfhandschuhe, die von irgendwelchen Bergbauernfrauen gemacht wurden, irgendwo weit weg, der eine in der Form einer roten Eule, der andere in der Form einer marineblauen Miezekatze.
Augusta rümpft die Nase über die Eule und die Miezekatze. Ihre eigene Küche wird weiß sein, sagt sie zu Charis, und sehr funktionell, und alles wird in Schränken und Schubladen verstaut sein. Sie hat auch schon ein Foto ausgeschnitten, aus der Architectural Digest.
Charis liebt Augusta, beschließt aber, im Augenblick nicht über sie nachzudenken. Es ist zu früh am Morgen. Statt dessen wird sie den Sonnenaufgang genießen, der eine neutralere Art ist, den Tag zu beginnen.
Sie geht zu dem kleinen Schlafzimmerfenster und zieht den Vorhang zur Seite, der aus demselben Stoff gemacht ist, der auf ihrem Bett liegt. Sie ist noch nicht dazu gekommen, ihn umzusäumen, wird es aber noch tun, später. Mehrere der Reißzwecken, die die obere Kante an der Wand festhalten, lösen sich und fallen klappernd auf den Boden. Jetzt wird sie daran denken und aufpassen müssen, daß sie nicht mit den nackten Füßen hineintritt. Sie sollte sich eine Gardinenstange oder etwas Ähnliches besorgen, oder zwei Haken mit einem Stück Schnur dazwischen: das würde nicht viel kosten. Jedenfalls muß der Vorhang gewaschen werden, bevor Augusta
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