Die Räuberbraut
das nächste Mal nach Hause kommt. »Wird dieses Ding denn nie gewaschen?« hat sie gesagt, als sie das letzte Mal hier war. »Es sieht aus wie eine alte Unterhose.« Augusta hat eine sehr bildhafte Art, sich auszudrücken, die Charis zusammenzucken läßt. Sie ist zu scharf, zu grell, zu kantig: aus Blech gestanzte Formen.
Aber egal. Der Blick aus ihrem Schlafzimmerfenster ist da, um sie zu trösten. Ihr Haus ist das letzte in der Reihe, dann kommt das Gras, dann die Bäume, Ahorn und Weiden, und durch eine Lücke in den Bäumen der Hafen, wo die Sonne gerade anfängt, das Wasser zu berühren, aus dem am heutigen Tag ein leichter Dunst aufsteigt. So rosa, so weiß, so hellblau, mit einer schmalen Neumondsichel darüber, und die Möwen kreisen und stoßen herab wie ein Geschwader von Seelen; und über dem Nebel schwebt die Stadt, Turm um Turm um Turm um Kirchturm, die verglasten Wände in ihren unterschiedlichen Farben, Schwarz, Silber, Grün, Kupfer, fangen das Licht ein und werfen es, um diese Stunde, sehr sanft zurück.
Von hier gesehen, von der Insel, wirkt die Stadt geheimnisvoll, wie eine Fata Morgana, wie der Umschlag eines Science-fiction-Romans. Eines Taschenbuchromans. Bei Sonnenuntergang ist es genauso, wenn der Himmel sich erst in ein verbranntes Orange verwandelt, und dann in das Scharlachrot des Weltinnenraums, und dann indigofarben wird, und die Lichter in den vielen Fenstern die Dunkelheit in Gaze verwandeln; und in der Nacht zeichnen sich dann die Neonlichter vor dem Himmel ab, und die Stadt strahlt einen Schein aus wie ein Rummelplatz, oder wie etwas, was gefahrlos in Flammen steht. Nur mittags, im gleißenden Licht des Tages, sieht Charis nicht gerne zur Stadt hinüber. Sie ist dann zu scharf umrissen. Schrill und anmaßend. Sie drängt und drängelt. Sie besteht dann nur aus Eisenträgern und Betonplatten.
Charis würde die Stadt lieber nur ansehen, statt sie zu betreten, selbst in der Dämmerung. Sobald sie in der Stadt ist, kann sie sie nicht mehr sehen; oder nur noch im Detail, sie wird dann gröber, pockennarbiger, durchzogen von Rastern, wie eine mikroskopische Vergrößerung menschlicher Haut. Sie muß aber jeden Tag hinfahren; sie muß arbeiten. Die Arbeit ist ganz in Ordnung, soweit man das von einer Arbeit überhaupt sagen kann, aber es ist nun einmal Arbeit, und jede Arbeit hat ihre Fesseln. Ihre eckigen Klammern. Deshalb versucht sie, für jeden Tag eine kleine Unterbrechung einzuplanen, eine kleine Freude, etwas Besonderes.
Heute trifft sie sich mit Roz und Tony zum Lunch im Toxique. In gewisser Weise sind die beiden keine passenden Freundinnen für sie. Es ist komisch, daß sie sie schon so lange kennt, seit der McClung Hall. Nun ja, nicht gerade kennt. Damals kannte sie im Grunde genommen überhaupt keine Leute, höchstens ihre äußere Erscheinung. Aber jetzt sind Tony und Roz Freundinnen, das steht fest. Sie sind Teil ihres Musters, für dieses Leben.
Sie wendet sich vom Fenster ab und hält inne, um eine Reißzwecke aus ihrem Fuß zu entfernen. Sie tut nicht so weh, wie sie gedacht hätte. Für einen kurzen Augenblick sieht sie ein Bett aus Nägeln vor sich, sieht sich selbst auf diesem Bett liegen. Es würde natürlich eine Weile dauern, bis man sich daran gewöhnt hätte, aber es wäre gutes Training.
Sie zieht ihr weißes Baumwollnachthemd aus, trinkt das Glas Wasser, das sie jeden Abend neben ihr Bett stellt, damit sie nicht vergißt, genügend Wasser zu trinken, und macht, nur mit einem Schlüpfer bekleidet, ihre Yoga-Übungen. Ihr Trikot ist in der Wäsche, aber was macht das schon? Niemand kann sie sehen. Das Alleinleben hat auch seine guten Seiten. Das Zimmer ist kühl, aber kühle Luft kräftigt die Haut. Das Gute an ihrem Job ist, daß sie erst um zehn anfangen muß, wodurch sie einen langen Vormittag für sich hat, Zeit, langsam in den Tag hineinzuwachsen.
Sie schummelt ein bißchen bei den Übungen, weil sie im Augenblick keine richtige Lust hat, sich auf den Fußboden zu legen. Dann geht sie nach unten, um zu duschen. Das Badezimmer liegt hinter der Küche, weil es erst nachträglich angebaut wurde. Viele Häuser auf der Insel sind so; zuerst hatten sie nur Außenklos, weil sie damals nur Sommerhäuser waren. Charis hat ihr Badezimmer in einem fröhlichen Rosa gestrichen, was aber leider auch nichts an dem schiefen Fußboden geändert hat. Es ist gut möglich, daß das Badezimmer sich allmählich vom Rest des Hauses löst, was die Risse erklären würde, und
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