Die Räuberbraut
sieht alles auf ihrem Teller in der Form eines zukünftigen Kothaufens.
Lösch den Speck , befiehlt sie sich streng. Draußen scheint jetzt die Sonne, sie sollte lieber daran denken. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, dem runden Eichentisch, den sie hat, seit August geboren wurde, in ihrem japanischen Baumwollkimono mit den Bambuszweigen, ißt ihr Müsli, kaut es die empfohlene Zahl von Malen und sieht aus dem Küchenfenster. Früher konnte sie von hier das Hühnerhaus sehen. Billy hatte es selbst gebaut, und sie ließ es als eine Art Denkmal stehen, obwohl keine Hühner mehr darin lebten, bis August sich in Augusta verwandelte und sie zwang, es abzureißen. Sie taten es gemeinsam, mit Brechstangen, und hinterher weinte sie auf ihrer weißen Bettdecke mit den Ranken. Wenn sie nur wüßte, wohin er damals verschwand. Wenn sie nur wüßte, wohin sie ihn brachten. Er muß irgendwohin gebracht worden sein, mit Gewalt, von irgend jemand. Er wäre niemals einfach so fortgegangen, ohne ihr etwas zu sagen, ohne ihr zu schreiben...
Der Schmerz erwischt sie am Hals, genau am Kehlkopf, bevor sie ihn daran hindern kann. Lösch den Schmerz. Aber manchmal kann sie es einfach nicht. Sie schlägt den Kopf sanft gegen die Tischkante.
»Manchmal kann ich es einfach nicht«, sagt sie laut.
Also gut, sagt Shanitas Stimme. Laß ihn über dich fluten. Laß ihn einfach über dich fluten. Er ist nur eine Welle. Er ist wie Wasser. Denk darüber nach, welche Farbe die Welle hat.
»Rot«, sagt Charis laut.
Also gut, sagt Shanita lächelnd. Das kann auch eine hübsche Farbe sein, nicht wahr? Halt sie fest. Halt diese Farbe einfach fest.
»Ja«, sagt Charis kläglich. »Aber es tut weh.«
Natürlich tut es weh! Wer hat gesagt, daß es nicht weh tun würde? Wenn es weh tut, bedeutet das, daß du noch am Leben bist! Also – welche Farbe hat dieses Wehtun?
Charis atmet ein, atmet aus, und die Farbe verblaßt. Es funktioniert auch bei Kopfschmerzen. Einmal hat sie versucht, es Roz zu erklären, als Roz einen großen Schmerz erlitt, einen tieferen und neueren Schmerz als den, unter dem Charis leidet. Das heißt, vielleicht doch nicht unbedingt tiefer. »Du kannst dich selbst heilen«, sagte sie zu Roz und versuchte, ihre Stimme ruhig und selbstbewußt klingen zu lassen, wie die von Shanita. »Du kannst es kontrollieren.«
»So ein Blödsinn« , sagte Roz böse. »Es hat absolut keinen Sinn zu sagen, daß man aufhören soll, jemand zu lieben. Es funktioniert nicht!«
»Du solltest aber aufhören, wenn du weißt, daß es schlecht für dich ist«, sagte Charis.
»Schlecht für einen hat nichts damit zu tun«, sagte Roz.
»Ich mag Hamburger«, sagte Charis, »aber ich eß sie trotzdem nicht.«
»Hamburger sind kein Gefühl« , sagte Roz.
»Doch, das sind sie«, sagte Charis.
Charis steht auf, um den Kessel aufzustellen. Sie wird sich einen Morning-Miracle-Tee machen, eine Spezialmischung aus dem Laden. Als sie das Gas anzündet, stellt sie sich seitlich neben den Herd, weil es Tage gibt – und dies ist einer davon –, an denen sie der Küchentür nicht gerne den Rücken zudreht.
Die Küchentür hat eine Glasscheibe, in Kopfhöhe. Vor einem Monat hat Augusta, als sie für das Wochenende nach Hause kam, Charis einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Nicht am Morgen, sondern am Abend, in der Dämmerung. Es nieselte, ein feiner, schottischer Nieselregen; die Stadt und ein Teil des Sees waren wie ausgelöscht, und es war kein Licht des hinter Wolken versteckten Sonnenuntergangs zu sehen. Charis hatte Augusta erst später erwartet, möglicherweise erst am nächsten Tag; sie dachte, sie würde erst vom Festland anrufen, auch wenn sie nicht genau wußte, wann. Augusta ist in bezug auf ihr Kommen und Gehen reichlich nachlässig geworden.
Jedenfalls war plötzlich das Gesicht einer Frau in der Glasscheibe der Tür eingerahmt. Ein weißes Gesicht, unkenntlich in der Dämmerung, in der wolkigen Luft. Charis drehte sich vom Herd um und sah es, und ihre Nackenhaare sträubten sich.
Es war nur Augusta, aber Charis dachte etwas ganz anderes. Sie dachte, es wäre Zenia. Zenia, mit ihren dunklen, vom Regen geglätteten Haaren, naß und zitternd, die auf der Hintertreppe stand, wie sie es schon einmal getan hatte, vor langer Zeit. Zenia, die seit fünf Jahren tot war.
Das Schlimmste war, denkt Charis, daß sie Zenia mit ihrer eigenen Tochter verwechselt hatte, die überhaupt nicht wie Zenia ist. Wie konnte ihr nur etwas so Schreckliches passieren!
Nein.
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