Die Räuberbraut
Das Schlimmste war, daß sie im Grunde gar nicht so besonders überrascht gewesen war.
8
Nicht überrascht, weil Menschen nicht sterben. Glaubt Charis zumindest. Tony hat sie einmal gefragt, was sie denn unter sterben versteht, und Charis – die bei Tonys Art, sie festnageln zu wollen, immer ganz nervös wird und sich häufig herausmogelt, indem sie so tut, als hätte sie die Frage nicht gehört – mußte zugeben, daß sie schon einen Prozeß durchlaufen, den alle für gewöhnlich als Tod bezeichen. Tatsächlich geschahen einige reichlich endgültige Dinge mit dem Körper, Dinge, mit denen Charis sich lieber nicht näher befassen würde, weil sie sich noch nicht entschieden hat, ob es besser wäre, mit der Erde zu verschmelzen, oder – durch Einäscherung – mit der Luft. Jede der beiden Möglichkeiten hat als grundsätzliche Idee einiges für sich, aber wenn es dann konkret wird, wenn es um konkrete Einzelheiten wie Charis’ eigene Finger, Zehen oder ihren Mund geht, schon weniger.
Der Tod war nur eine Phase, versuchte sie zu sagen. Er war nur eine Art Stadium, ein Übergang; er war, nun ja, ein Lernprozeß.
Sie ist nicht besonders gut, wenn es darum geht, Tony etwas zu erklären. Meistens verhaspelt sie sich und gerät ins Stottern, vor allem wenn Tonys riesige und leicht eisige Augen, vergrößert durch diese Brille, auf sie gerichtet sind und Tonys Mund mit den kleinen Perlenzähnchen leicht geöffnet ist. Es ist, als wäre Tony höchst verwundert über alles, was Charis sagt. Aber das, was in Tonys kleinem Kopf vor sich geht, hat – so vermutet Charis – nichts mit Verwunderung zu tun. Obwohl Tony nie über sie lacht, jedenfalls nicht offen.
»Und was lernt man dabei?« fragte Tony.
»Nun, man lernt – wie man besser wird, beim nächsten Mal. Man geht in das Licht ein«, sagte Charis. Tony beugte sich vor und machte ein interessiertes Gesicht, und Charis stotterte weiter. »Leute haben Erlebnisse nach dem Tod, die sie erzählen, daher wissen wir es. Wenn sie wieder ins Leben zurückkommen.«
»Sie kommen ins Leben zurück?« wiederholte Tony mit weit geöffneten Augen.
»Andere Leute hämmern ihnen auf der Brust herum. Und atmen in sie hinein, und wärmen sie, und, und holen sie zurück«, sagte Charis.
»Sie meint fast tot« , sagte Roz, die Tony oft erklärt, was Charis meint. »Du mußt diese Artikel doch auch gelesen haben! Sie sind in letzter Zeit das Thema. Angeblich erlebt man eine Art son et lumière. Tunnel und Feuerwerke und Barockmusik. Mein Vater hatte auch so was, als er seinen ersten Herzanfall hatte. Sein alter Anlageberater erschien ihm, hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum, und sagte ihm, er könne noch nicht sterben, weil er noch unerledigte Geschäfte habe.«
»Ah«, sagte Tony. »Unerledigte Geschäfte.«
Charis hätte gerne gesagt, daß sie das nicht gemeint hatte, sie hatte richtig nach dem Tod gemeint. »Manche Leute schaffen es nicht bis zum Licht«, sagte sie. »Sie verirren sich. Im Tunnel. Manche von ihnen wissen nicht einmal, daß sie tot sind.« Sie fügte nicht hinzu, daß diese Leute gefährlich werden konnten, weil sie in die Körper anderer Leute eindringen konnten, sozusagen in sie einziehen, wie Hausbesetzer, und dann konnte es schwierig sein, sie wieder loszuwerden. Sie fügte dies nicht hinzu, weil es sowieso nichts genützt hätte: Tony war beweissüchtig.
»Stimmt«, sagte Roz, der es bei dieser Art von Unterhaltung immer ganz mulmig wurde. »Solche Leute kenn ich auch. Mein eigener Anlageberater gehört auch dazu. Oder die Regierung. Sie sind mausetot, aber meinst du, sie wissen’s?« Sie lachte und fragte Charis, was mit ihrem Rittersporn los sein könne, weil er immer schwärzer würde. »Es muß eine Art Mehltau sein«, sagte Charis. So behandelte Roz das Leben nach dem Tod immer: als Rahmen für ihre Gartenprobleme. Dabei war es das einzige Thema, bei dem Charis über weit mehr harte Fakten verfügte als Tony.
Aber als Zenia an der Hintertür stand, im Regen, dachte Charis Folgendes. Sie dachte: Zenia hat sich verirrt. Sie kann das Licht nicht finden. Vielleicht weiß sie nicht einmal , daß sie tot ist. Was wäre in diesem Fall natürlicher, als zu Charis zu kommen und sie um Hilfe zu bitten? Sie war auch das erste Mal gekommen, um sich helfen zu lassen.
Dann hatte sich natürlich herausgestellt, daß Zenia gar nicht Zenia war, sondern Augusta, die übers Wochenende nach Hause kam und ein wenig verloren wirkte, weil – so vermutete Charis
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