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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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den Staub ihrer Vorfahren von den Sandalen zu schütteln. Nicht, daß es ihr so besonders gut gelungen wäre.
    Vielleicht raucht er Dope, denkt sie. Auch dafür sieht sie keine Anzeichen, aber schließlich hat sie von diesen Dingen keine Ahnung? Einmal hat sie ein Päckchen gefunden, einen kleinen Plastikbeutel, der etwas enthielt, das wie Backpulver aussah, und sie beschloß, lieber nicht zu wissen, was es war, denn was hätte sie schon tun können? Man kann seinem zweiundzwanzigjährigen Sohn schließlich nicht gut erzählen, daß man gerade zufällig seine Hosentaschen durchgesehen hat. Nicht mehr.
    Er hat einen Wecker. Andererseits stellt er ihn im Schlaf ab, so wie Mitch es immer tat. Vielleicht sollte sie kurz in sein Zimmer schleichen, einen schnellen Blick auf den Wecker werfen und nachsehen, auf welche Zeit er gestellt ist. Dann wüßte sie, ob er ihn abgestellt hat oder nicht, dann wüßte sie, was sie zu tun hat.
    Sie öffnet vorsichtig seine Tür. Eine Kleiderspur führt von dieser Tür zum Bett, wie ein abgeworfener Kokon, der einfach liegengelassen wurde: handgearbeitete Cowboystiefel, Socken, hellbraune Wildlederjacke, Jeans, schwarzes T-Shirt. Ihre Finger jucken, aber es ist nicht mehr ihre Aufgabe, die Sachen der Kinder von ihren Fußböden aufzuheben, und sie hat auch Maria angewiesen, es nicht mehr zu tun. Wenn die Sachen in euren Wäschekörben sind , werden sie gewaschen, hat sie zu ihnen allen gesagt. Sonst nicht.
    Das Zimmer ist immer noch ein Jungenzimmer. Nicht das Zimmer eines Mannes. Auf den Bücherregalen stehen Schulbücher; zwei Bilder von Segelschiffen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Mitch ausgesucht hat, hängen an der Wand; ihr erstes Boot, die Rosalind, mit ihnen dreien drauf, sie und Mitch und Larry, als er sechs war, bevor die Zwillinge geboren wurden; die Hockeytrophäe aus der elften Klasse; das Bild eines Fisches, das er mit neun Jahren gemalt hat und das Mitch so gut gefiel. Zumindest hatte er es damals gelobt. Larry hatte mehr von Mitch als die Zwillinge, vielleicht weil er der erste war, und ein Junge, und das einzige Kind. Aber Mitch war im Umgang mit ihm nie völlig unbefangen, bei den Zwillingen auch nicht. Er war immer schon mit einem Fuß aus der Tür. Er hatte eine Art Vatertour drauf: zu plump, zu herzlich, zu sehr mit Blick auf die Uhr. Er erzählte Witze, die für Larry viel zu hoch waren, und Larry sah ihn mit seinen rätselnden, mißtrauischen Kinderaugen an, und durchschaute ihn. Kinder können das.
    Trotzdem, es war hart für Larry. Irgend etwas fehlt einfach. Niedergeschlagenheit macht sich in Roz breit, das vertraute Gefühl, versagt zu haben. Der, bei dem sie am meisten versagt hat, ist Larry. Wenn sie nur – was? – gewesen wäre – hübscher, klüger, sexier, irgendwie besser; oder auch schlimmer, berechnender, skrupelloser, eine Guerillakämpferin –, wäre Mitch vielleicht noch da. Roz fragt sich, wie lange ihre Kinder brauchen werden, ihr zu verzeihen, wenn sie erst einmal dahintergekommen sind, wieviel sie ihr zu verzeihen haben.
     
    Larry liegt schlafend in seinem Bett, seinem schmalen Einzelbett, einen Arm über den Augen. Seine Haare liegen fedrig auf dem Kopfkissen, heller als die Haare der Zwillinge, glatter, mehr wie Mitchs Haare. Er läßt sie zur Zeit wachsen, mit einem Zopf hinten, dünn wie ein Rattenschwanz. Ihrer Meinung nach sieht es furchtbar aus, aber kein Wort ist über ihre Lippen gekommen.
    Roz bleibt stocksteif stehen und lauscht auf seinen Atem. Das hat sie immer getan, seit er ein Baby war: gelauscht, ob er noch lebte. Er hatte als Kind schwache Lungen; er hatte Asthma. Bei den Zwillingen lauschte sie nie, weil es nicht erforderlich schien. Sie waren so robust.
    Er atmet ein, ein langes Seufzen, und ihr Herz wird ganz weich. Ihre Liebe zu ihm hat eine andere Qualität als ihre Liebe zu den Zwillingen. Die Zwillinge sind zäh und drahtig, sie sind nicht unterzukriegen; es ist nicht so, als würden sie keine Wunden abbekommen, sie haben bereits welche, aber sie können diese Wunden lecken und dann wieder auf die Füße springen. Außerdem haben sie einander. Larry dagegen sieht aus wie einer im Exil, wie ein verirrter Reisender, wie einer, der in einem Niemandsland festsitzt, zwischen den Grenzen und ohne Paß, wie einer, der verzweifelt versucht, die Straßenschilder zu verstehen, wie einer, der nur den einen Wunsch hat, das Richtige zu tun.
    Der Mund unter dem jungen Schnurrbart wirkt ordentlich, aber auch sanft. Es ist

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