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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Verprügelten Omis , und, zur damaligen Zeit, die Wale und die Opfer von Hungerkatastrophen und die dörflichen Selbsthilfeorganisationen, soviel zur unansehnlichen, übergewichtigen Mama Roz, gekettet an ihr langweiliges altes Gewissen. Es war eine egoistische, gedankenlose Bemerkung, eine gewagte Bemerkung, eine von Zwängen befreite Bemerkung – zum Teufel mit den Schuldgefühlen! Es war, wie wenn man in einem offenen Sportwagen das Gaspedal durchtrat, zu dicht auffuhr, ständig von einer Spur auf die andere wechselte, natürlich ohne zu blinken, die Stereoanlage volle Kanne aufgedreht und zur Hölle mit den Nachbarn, Abfälle einfach aus dem Fenster warf, die Bänder, die Bonbonpapierchen, die angebissenen Kekse und Sekttrüffeln, Dinge, die man aufgebraucht hatte, indem man sie nur ansah.
    Das Schlimmste daran war, daß Roz – wenn auch schockiert, wenn auch Oh, Zenia, das meinst du doch nicht im Ernst! stotternd – in sich selbst einen Widerhall gespürt hatte. Eine Art Echo, das Bedürfnis, auch so zu rasen, so frei zu sein, so gierig. Wieso nicht? Meinst du vielleicht, die in der Dritten Welt würden auch nur einen Finger für dich krumm machen, wenn es umgekehrt wär? Es war wie in dieser Werbung, für ein Auto, wenn sie sieh richtig erinnert: Mach Staub oder schluck ihn. Das waren die beiden Angebote, damals.
    Und Roz machte Staub, eine Menge Staub, goldenen Staub, und Zenia machte auch eine Menge Staub, wenn auch von anderer Art. Und jetzt ist sie selbst Staub. Und Asche, und Mitch ebenfalls. Das ist der Geschmack, den Roz jetzt im Mund hat.
     
    Roz stakst über den Kies, erreicht den Bürgersteig und hastet, so schnell ihr enger Rock es zuläßt, in Richtung Toxique. Ein beiläufiges Flattern ausgestreckter Hände, leiser, murmelnder Stimmen, blasser, unglücklicher Stimmen, wie kurz vor dem Einschlafen. Sie drückt zerknüllte Geldscheine in die zitternden Finger, die zerschlissenen Handschuhe, ohne hinzusehen, denn wenn es etwas gibt, was sie einem übelnehmen, dann Neugier. Ihr selbst würde es genauso gehen. Weiter vorne entdeckt sie Tony, die ihr mit ihrem gleichmäßigen Ponytrott entgegenkommt. Roz winkt und schreit Juhu, und Tony bleibt stehen und lächelt, und Roz spürt, wie eine Welle warmer Freude sie durchflutet. Was für ein Trost!
    Und auch Charis, die schon am Tisch sitzt und zur Begrüßung mit der Hand wedelt, ist ein Trost. Küßchen, Küßchen macht Roz auf jede Wange, und läßt sich auf einen Stuhl fallen und kramt in ihrer Tasche nach ihren Zigaretten. Sie hat die feste Absicht, dieses Essen zu genießen, denn diese beiden Frauen bedeuten Sicherheit: von allen, die sie kennt, ihre Kinder eingeschlossen, sind diese beiden die einzigen, die nichts von ihr wollen. Sie kann unter dem Tisch die Schuhe ausziehen, sie kann großspurige Reden schwingen und lachen und sagen, was immer sie will, weil nichts entschieden wird, nichts gefordert wird; und es wird auch nichts verschwiegen und verheimlicht, weil die beiden sowieso schon alles wissen. Sie wissen das Schlimmste. Bei ihnen, und nur bei ihnen allein, hat sie keine Macht.
    Da kommt die Kellnerin – wo kriegen sie bloß immer diese Klamotten her? Roz empfindet echte Bewunderung für den Mut, den diese Leute haben, und wäre froh, sie könnte sich eine Scheibe davon abschneiden. Leopardengemusterte Strumpfhose und silberne Stiefel! Das hier sind keine Kleider, es sind Kostüme, aber wer wollen diese Leute sein? Zelebranten. Aber was zelebrieren sie? Welche seltsame Religion? Roz findet die Bevölkerung des Toxique faszinierend, aber auch ein wenig beängstigend. Wenn sie aufs Klo geht, hat sie jedes Mal Angst, aus Versehen die falsche Tür zu öffnen und in irgendein unheiliges Ritual hineinzuplatzen. Orgien! Menschenopfer! Nein, das geht zu weit. Aber etwas, das sie besser nicht wissen sollte, etwas, das sie in Schwierigkeiten bringen wird. Wie in einem schlechten Film.
    Aber das ist nicht der wahre Grund, der sie immer wieder ins Toxique zurückzieht. Der wahre Grund ist der, daß sie, komme was da wolle, ihre Finger nicht von der Wäsche lassen kann. Sie durchwandert die Zimmer ihrer Kinder wie ein Fisch, der sich vom Meeresgrund nährt, hebt hier eine schmutzige Socke auf, dort eine Unterhose, und einmal hat sie ein Streichholzbriefchen aus dem Toxique in der Tasche von Larrys zusammengeknülltem Hemd gefunden, und eine Woche später noch eins. Ist es so unnatürlich, wissen zu wollen, wo der eigene Sohn seine Zeit verbringt?

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