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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Abends natürlich; mittags kommt er bestimmt nicht her. Jedenfalls kann sie nicht anders, sie muß den Laden im Auge behalten, ab und zu mal hineinsehen. Sie hat dann etwas Konkreteres: wenigstens geht er irgendwohin, er löst sich nicht einfach in Luft auf. Aber was tut er hier, und mit wem tut er es?
    Nichts und mit niemand vielleicht. Vielleicht ißt er einfach nur hier, genau wie sie.
    Apropos essen. Sie fährt mit dem Finger die Speisekarte hinunter -  sie ist so hungrig, daß sie ein ganzes Pferd verspeisen könnte, obwohl sie klug genug ist, sich diese Bemerkung in Gegenwart von Charis zu verkneifen. Sie entscheidet sich für das extra dicke, mit Käse überbackene und getoastete Gourmetsandwich auf Kräuter- und Kümmelbrot mit polnischen Gurken. Solides Bauernessen, oder das, was dafür gilt. Die Polen müßten es so gut haben, im Augenblick exportieren sie wahrscheinlich all ihre Gurken gegen harte Devisen. Sie gibt der Kellnerin mit den zerzausten Haaren ihre Bestellung auf – könnte sie für Larry die Attraktion sein? Ein dienstbares Mädchen? – und setzt sich bequemer hin, um Tony zum Thema Mittlerer Osten auszuquetschen. Wann immer dort irgendwas Wichtigeres passiert, schlägt es Wellen in der Geschäftswelt.
    Tony ist außerdem deswegen eine so befriedigende Gesprächspartnerin, weil sie, egal wie pessimistisch Roz aktuelle Ereignisse einschätzen mag, alles noch viel schlimmer sieht. Sie gibt Roz das Gefühl, ein naiver, junger Wirrkopf zu sein, und das ist zur Abwechslung so was von erfrischend] Im Laufe der Jahre haben sie über die US-Präsidentschaft geklagt, die Köpfe darüber geschüttelt, wie die Tories England in Grund und Boden wirtschaften, anhand ihrer Analyse von Margaret Thatchers Frisur – eine militaristische Eisenblechfrisur, wie sie im Buche steht, sagte Tony – finstere Zukunftsprognosen entworfen. Als die Mauer fiel, sagte Tony Emigrantenwellen aus dem Ostblock voraus, und eine wachsende Abneigung gegen sie im Westen, und Roz sagte: Ach, ganz bestimmt nicht, weil der Gedanke, daß Einwanderer auf Abneigung stoßen könnten, ihr entsetzlich ist. Einer ist schon zuviel, sagte der kanadische Premierminister während des Krieges über die Juden.
    Aber die Sache wird immer verwirrender: wie viele Einwanderer kann man aufnehmen? Wie viele von ihnen kann man verkraften, realistisch gesehen, und wer sind sie überhaupt, und wo zieht man die Grenze? Allein die Tatsache, daß es Roz ist, die diese Überlegungen anstellt, ist Beweis für das Ausmaß des Problems, denn Roz weiß nur allzu gut, wie es ist, sie zu sein. Auch wenn sie inzwischen wir ist. Es macht einen Unterschied. Sie haßt es, als Geizkragen dazustehen, der niemand sonst was gönnt, aber sie muß zugeben, daß Tony – wie pessimistisch auch immer – ins Schwarze getroffen hat. Roz bewundert das. Wenn Tony ihre prognostischen Fähigkeiten nur auf etwas Lukrativeres richten würde, die Börse zum Beispiel.
    Aber Tony ist bei allem immer so kühl. So nüchtern und sachlich. Was hast du denn erwartet? fragt sie mit ihren runden, überraschten Augen. Ihre Überraschung gilt der Hoffnung anderer Leute, ihrer Naivität, ihrer schwammigen Sehnsucht, daß alles sich irgendwie doch noch zum Besten wenden möge.
    Derweil ist Charis, die nicht an den Tod glaubt, sondern nur an Übergänge, fassungslos über all die Unruhen und Kriege und Hungersnöte, über die Tony sich ausläßt, weil so viele Menschen sterben werden. Es geht ihr nicht um den Tod an sich, sagt sie zu ihnen – sondern um die Art dieses Todes. Es ist kein guter Tod, er ist gewaltsam und grausam, unvollständig und beschädigt, und die schlimmen Auswirkungen werden wie eine Art spiritueller Umweltverschmutzung noch Jahre später zu spüren sein. Wenn man Charis glauben will, ist es schon schädlich, an diese Dinge nur zu denken.
     
    »Das Ganze ist beschlossene Sache«, sagt Tony. »Es wurde beschlossen, sobald Saddam diese Grenze überquert hatte. Wie beim Rubikon.«
    Rubikon, Rubikon. Roz weiß, daß sie den Namen schon gehört hat. Ein Fluß; irgend jemand hat ihn überquert. Tony hat eine ganze Liste von Flüssen, die irgendwann von irgendwem überquert wurden, mit Folgen, die die Welt veränderten. Der Delaware, das war Washington. Die germanischen Stämme, die den Rhein überquerten und das römische Reich zu Fall brachten. Aber der Rubikon? Wie dumm von Roz! Julius Cäsar, volle zehn Punkte!
    Dann schlägt es wie der Blitz bei Roz ein – was für ein

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