Die Ranch
sie, ihm ihre Gefühle zu erklären. Doch das war gar nicht nötig. Die schwangere Frau glich ihr, und er hatte bereits erraten, dass der Junge sie an Todd erinnerte.
»Was müssen Sie durchgemacht haben …« Die anderen hatten sie allein gelassen, und sie setzten sich auf einen Baumstamm, um zu warten, bis Mary Stuart ihre Fassung wieder gewinnen würde. Aber jetzt, in Hartleys Nähe, fühlte sie sich schon viel besser, da er ihren Kummer aus eigener Erfahrung nachempfinden konnte. Seine Frau war eines schmerzlichen Todes gestorben, und er hatte ihr bis zuletzt beigestanden. Als er das Ende kommen sah, schloss sie Frieden mit ihrem Schicksal und bat Hartley, sie gehen zu lassen, und am Weihnachtsmorgen war sie in seinen Armen gestorben.
»Warum und wie es geschehen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat Benjamin eine Hand ausgestreckt und mein Herz berührt.«
»Manchmal passieren solche Dinge«, erwiderte er sanft. Wie mochte ihr Sohn gestorben sein? Danach wagte er nicht zu fragen. Aber sie erriet seine Gedanken.
»Todd hat Selbstmord begangen. In Princeton.« Und dann erzählte sie die ganze traurige Geschichte. Das Entsetzen, der Schmerz, das Begräbnis, das Verhalten ihres Mannes …
»Welch ein Wunder, dass Sie alle diesen Albtraum überlebt haben«, meinte Hartley.
»In gewissem Sinn haben wir's nicht überlebt. Bill ist ein Zombie, unsere Ehe existiert nicht mehr. Meine Tochter wäre am glücklichsten, wenn sie nie wieder nach Hause kommen müsste, und das kann ich ihr nicht verdenken. Auch ich möchte nie mehr in diese Hölle zurückkehren.«
»Sind Sie sicher?«, fragte er skeptisch. Nachdem sie die Ereignisse geschildert hatte, verstand er die Situation etwas besser. Offenbar stand ihr Mann immer noch unter Schock. Und was, wenn er ihn überwand? Immerhin waren sie seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet.
»O ja. Ich habe mir vorgenommen, in diesem Sommer gründlich über alles nachzudenken.« Und dann lächelte sie. »Dass ich einem Mann wie Ihnen begegnen würde, hatte ich nicht erwartet.« Wie sich die Dinge entwickeln würden, wusste sie nicht. Vielleicht würden sie sich nach dem Urlaub nie wieder sehen. Andererseits war alles möglich. Seinetwegen würde sie Bill nicht verlassen, sondern weil die Trennung unvermeidlich war. »Ich muss mich in Acht nehmen – weil ich das Richtige tun will, und was das ist, weiß ich noch nicht.«
Schweigend nickte er, legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Ein paar Minuten später begleitete er sie zu ihrem Bungalow. Zoe und Tanya tranken gerade Kaffee, und Hartley gesellte sich zu ihnen, während Mary Stuart duschte. Soeben hatten sie den Gong gehört, der den Lunch ankündigte. Die beiden Frauen gingen zum Ranchhaus, immer noch bedrückt wegen der Ereignisse des Vormittags, und Hartley wartete auf Mary Stuart. Als sie das Bad verließ und ihn im Wohnzimmer umherwandern sah, hob sie erstaunt die Brauen. Lächelnd dankte sie ihm, weil er auf sie gewartet hatte. Plötzlich sorgte sie sich um ihn. Er war so gut zu ihr, so großzügig. Auch er hatte viel gelitten, und sie durfte ihm nicht wehtun.
Langsam ging sie zu ihm. »Ich möchte Sie nicht verletzen.« Darüber hatte sie gründlich nachgedacht. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, doch sie wollte sich nicht selbstsüchtig verhalten. Noch war ihre Ehe nicht beendet. Obwohl sie glaubte, ihr Entschluss würde feststehen, brauchte sie etwas mehr Zeit. »Sie sind sehr nett. Und ich kenne Sie kaum. Niemand außer Tanya war jemals so freundlich zu mir wie Sie, Hartley.«
»Danke.« Während er sie beobachtete, setzte er sich auf die Armlehne der Couch. Sie trug Jeans und ein rotes T-Shirt, und ihr Anblick beschleunigte seinen Herzschlag. »Machen Sie sich keine Gedanken um mich, Mary Stuart. Ich bin ein erwachsener Mann. Da wir beide viel durchgemacht haben, möchte ich verhindern, dass einer von uns beiden leidet. Natürlich kenne ich die Risiken, aber ich will trotzdem mit Ihnen zusammen sein.«
Durfte sie ihren Ohren trauen? War er bereit, die Chance zu nutzen und abzuwarten, ob sie Bill tatsächlich verlassen würde? Wortlos stand er auf und ging zu ihr, nahm sie in die Arme und küsste sie. Sie roch nach Parfüm und Seife und Zahnpasta, so süß und sauber. Zärtlich strich er durch ihr Haar.
Er hatte schon so lange keine Frau mehr geküsst und fast vergessen, wie sich das anfühlte, doch weder sie noch er waren alt genug, um die Hoffnung auf eine neue Liebe zu begraben. Irgendwie glichen
Weitere Kostenlose Bücher