Die Rastlosen (German Edition)
sich das Kulturbudget an, Annie – das ist doch ein Witz. Manchmal schäme ich mich für dieses Land.«
Ihre Brüste waren mit Sommersprossen übersät.
»Hören Sie, wenn es Ihnen recht ist, können wir uns darüber ein andermal unterhalten, Annie, denn – hypnotisiert oder nicht – ich höre Ihre Kommilitonen kommen. Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie nicht länger auf meinem Schreibtisch sitzen würden. Ich glaube, das wäre besser. Seien Sie so gut. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. An was hatten Sie gedacht? Einmal? Zweimal die Woche?«
Er verwendete einen Teil des Nachmittags darauf, die Euphorie zu dämpfen, die einer dieser Typen aus Hollywood ausgelöst hatte, bestimmt ein Autor erfolgreicher Serien, teurer Filme oder von Quotenhits. Häuser mit Swimmingpool, roter Teppich, grandiose Gagen, Preise, Auszeichnungen – dieses goldene Zeitalter war vorüber, aber das wollten sie nicht hören. Sie empfanden ihn als unverbesserlichen Spielverderber und Miesmacher, einen Dinosaurier, der kurz vor der Rente stand. Um seine Ruhe zu haben, ließ er sie über einem kurzen Dialog aus Dr. Seltsam brüten und rauchte so lange eine Zigarette.
Aber wenn er hoffte, er könne sich auf diese Art Myriam aus dem Kopf schlagen, täuschte er sich.
Nach dem Unterricht schaute er auf einen Sprung in der Cafeteria vorbei. Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Fensterrahmen leuchteten golden. Der Saal war fast leer. Er wechselte ein paar Worte mit der Kellnerin, die gerade die Senftöpfchen auf den Tischen nachfüllte, aber sie hatte sie nicht gesehen, sie hatte Myriam den ganzen Tag über nicht gesehen. Er stand auf und holte sich schweigend noch einen Kaffee.
Als er gerade gehen wollte, tauchte erneut Annie Eggbaum auf.
»Ich sag’s Ihnen gleich, der Film hat mir überhaupt nicht gefallen«, erklärte sie.
Das sprach gegen sie, und wie. Aber sie war ganz schön mutig. Dann gab sie zu, dass sie ihn nicht allzu schlimm fand. Er spürte ihr Knie unter dem Tisch. Dennoch ging ihm Myriam nicht aus dem Kopf.
Er schaute sich um. Es war nur noch die Kellnerin da, inzwischen kümmerte sie sich um die Salzstreuer. Die Dämmerung setzte ein. Er wusste nicht, was Annie Eggbaum eingeworfen hatte, aber es schien, als wolle sie ihn mit den Augen verschlingen. Sie rieb ihr Knie an seinem Bein, ohne jede Hemmung, mit fast verbissener Hartnäckigkeit.
Bestimmt war es eine Wette. Oder ein Vitaminüberschuss. Bei einer Frau musste man mit allem rechnen.
»Sind Sie mit dem Auto da?«, fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf. Er musterte sie. »Warten Sie vor dem Parkplatz auf mich«, fuhr er nach kurzem Zögern fort. »Ich bin in fünf Minuten da.«
Auch früher hatte er bisweilen überstürzt gehandelt, aber er war noch nie so weit gegangen, sich in kompromittierender Begleitung sehen zu lassen, und diese Art Vorsichtsmaßnahme hatte sich erst kürzlich wieder als unerlässlich erwiesen – im Fall von Barbara hätte er nur völlig unnötige Scherereien und Qualen erdulden müssen angesichts von Polizeimethoden, über die sich Human Rights Watch und Konsorten regelmäßig entrüsteten.
Annie warf noch einen letzten Blick in seine Richtung, dann fiel die Tür hinter ihr zu. Ein heißer Schauer überlief ihn. Er tupfte sich die Stirn mit einer Recyclingserviette ab und schenkte der Kellnerin eine Zigarette. Sie steckte sie hinters Ohr. »Für später«, sagte sie. Sie plauderten ein wenig. Dann verabschiedete er sich.
Der Mond stand nun hoch am Himmel. Er ging hinaus und hielt direkt auf den Fiat zu, er lief tief gebeugt, seine Stirn war feucht und sofort eiskalt. Ideale Bedingungen für eine Erkältung.
Er setzte sich ans Steuer. Annie stand etwa hundert Meter weiter im gelblichen Licht einer Straßenlaterne auf dem Gehsteig, vor dem Personaleingang der Cafeteria, und dieser Anblick, diese junge Frau, die geduldig auf ihn wartete, ließ seinen Atem schneller gehen. Er startete den Motor. Sicher, Annie hatte ihn überrumpelt, das wusste er sehr wohl, Annie warf sich ihm geradezu an den Hals, aber er sah darin kein großes Risiko. Wenn er sich für diesen Weg entscheiden musste, um eine viel schrecklichere, viel gefährlichere Bedrohung abzuwenden, war er bereit, ihn zu gehen. Sein Überlebensinstinkt hatte sich in den letzten Jahren beträchtlich weiterentwickelt.
Er hielt neben ihr am Gehsteig, nachdem er beim Näherkommen nochmals die ansprechende Figur dieser Studentin hatte begutachten können, deren Vater ein
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