Die Rastlosen (German Edition)
tuckerte.
Der Wagen stand direkt vor der Eingangstür und funkelte sinnlos im Licht des Portals. Jeder andere, etwas besser erzogene Besucher hätte etwas weiter weg geparkt, aber Richard Olso war nicht der Typ, der sich mit solchen Feinheiten abgab. Leider nicht. Kurz malte er sich aus, wie es wäre, Richard Olso zum Schwager zu haben, falls Marianne kapitulierte, und wie jedes Mal ließ diese Vorstellung ihn erschauern. Er stellte den Motor ab. Seufzte.
Aber noch war nichts passiert.
Bestand auch nur die geringste Chance, dass er diesen Typen unter ihrem gemeinsamen Dach ertrug?
Von draußen sah er die beiden am Feuer sitzen und Pralinen naschen. Fast im selben Augenblick spürte er, wie seine Migräne wieder einsetzte. Migräne hatte viel mit Verärgerung zu tun. Er trat ein. Er hängte seinen Anorak an die Garderobe – neben einen Kamelhaarmantel, der sicherlich keinem der Hausbewohner gehörte.
»Du musst mit dem Zucker aufpassen. Richard, sie muss mit dem Zucker aufpassen, das wissen Sie ganz genau.«
»Nun lassen Sie sie doch ein bisschen zu Kräften kommen, und machen Sie sich keine Sorgen, mein Lieber. Ich glaube, wir haben die Lage im Griff.«
»Ich kann so viele Pralinen essen, wie ich will«, erklärte sie und pickte sich mit Daumen und Zeigefinger einen Trüffel heraus.
Ganz offensichtlich wollte sie ihn bestrafen, indem sie unfreundlich zu ihm war und übertrieben freundlich zu Richard, dessen Gesicht vor Zufriedenheit strahlte.
Bevor Richard Olso die Geschicke des Fachbereichs Literatur leitete, hatte er einen Posten als Kulturattaché irgendwo im hintersten Winkel Europas innegehabt und sich dort mit der Lyme-Krankheit infiziert. Sie war der Auslöser seiner leichten – aber fatalen – Gesichtslähmung, traurige Folgeerscheinung einer schlecht behandelten Borreliose, die ihm zudem diverse Gelenkbeschwerden bescherte und seine Bewegungen hölzern werden ließ, was die Sache nicht besser machte. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen, dass Richard Olso mit so einem Äußeren kein Hingucker war. Aber nichts für ungut.
Und nun Marianne. Was konnte sie nur an ihm finden? Was zum Teufel war in sie gefahren, dass sie sich seine ekelerregende Anmache gefallen ließ, was verbarg sich dahinter für eine Perversion? Was für eine geistige Anomalie?
Er beschloss, ihnen Gesellschaft zu leisten. Schließlich war er hier zu Hause, und es wurde Zeit, Richard klarzumachen, dass das Etablissement gleich schließen und die Belegschaft zu Bett gehen würde. Er ließ sich in einem Sessel nieder, gähnte und schlug die Praline aus, die Richard ihm anbot.
»Nein, danke, ich kann sonst nicht schlafen«, sagte er.
Draußen schimmerte der Mond in der kühlen Abendluft wie eine Porzellanscheibe.
»Vielen Dank jedenfalls, dass Sie vorbeigekommen sind, Richard. Ich habe mich so hingestellt, dass Sie ungehindert losfahren können, aber wenn ich Ihnen doch irgendwie im Weg stehen sollte, bin ich ja da. Nochmals vielen Dank für Ihren Besuch. Ich für meinen Teil bin total erschöpft. Ich habe Migräne. Und du, Marianne, bist, ehrlich gesagt, immer noch ziemlich blass. Du musst dich ausruhen. Du solltest längst im Bett sein. Bis vor kurzem konntest du dich nicht mal mehr auf den Beinen halten. Überschätz dich nicht. Denk dran, dass wir dich vom Boden aufgelesen haben.«
Noch einmal: Wie konnte sich so eine Frau für so einen Mann begeistern – wenn auch nur wenig, wie sie behauptete? Eine Frau, die gewöhnlich ein gutes Gespür hatte und Geschmack, Disziplin und Intelligenz bewies. Hatte es etwa damit zu tun, dass Richard den Fachbereich Literatur leitete und Marc sein Untergebener war? War das stimulierend? Konnte man sich leidenschaftlich für Nabokov begeistern und zugleich derart schäbige Geschichten leben?
Sie war zwar seine ältere Schwester, aber hatte er nicht auch Respekt verdient? Hatte er nicht verdient, dass ihm die üblichen Demütigungen und Treulosigkeiten erspart blieben, nachdem er aus reiner Großmut so viel Prügel für sie eingesteckt hatte? Wie viele Haarbüschel hatte er drangegeben, wie viel Mal war er k. o. geschlagen worden? Drei, wenn man das Mal mitrechnete, als er nicht ohnmächtig geworden war und dafür nur noch auf den gestampften Boden am Fuß jener Treppe starrte, die ihn diese Frau heruntergeschleudert hatte, als er sich minutenlang nicht bewegen und auch kaum atmen konnte, als er völlig hilflos in seine kurzen Hosen machte und nichts dagegen tun
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