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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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Universität zu beenden – er fühlte sich wie ein Hochstapler, der dafür bezahlt wurde, etwas zu vermitteln, das nicht vermittelt werden konnte –, aber er brachte nicht den Mut auf, alles hinzuwerfen, in einem Baum oder den Tiefen einer Höhle zu leben – denn keine Studentin hätte sich so einem zotteligen Wilden hingegeben, keine wäre ihm aus freien Stücken gefolgt, und das musste man sich doch gut überlegen. Sex war eine gewaltige Offenbarung gewesen. Sex hatte es ihm ermöglicht, viel Leid zu ertragen, und er konnte nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, ihn aufzugeben, ohne dass sein Verstand aussetzte.
    Da es noch recht früh war, folgte er einer spontanen Eingebung und legte noch vor seiner Ankunft einen Halt ein, parkte abseits der Straße und kletterte den Pfad hinauf wie ein Luchs, schnell und präzise, gebückt und fast unsichtbar – sein Atem ging zunehmend pfeifend, Steine spritzten unter seinen Schritten weg, Reisig knisterte und brach. Diese Geräusche waren ihm von klein auf vertraut, er hatte sie bisweilen zusammen mit seinem Herzen gehört, das noch viel stärker schlug, wenn sie ihn verfolgte, wenn sich diese schrecklichen Szenen abspielten, bei denen sie sich brüllend an seine Fersen heftete.
    Keine zwanzig Minuten später kroch er auf den Felsvorsprung, der den Schlund überragte. Eine sehr gute Zeit, eine ziemlich gute Leistung. In zügigem Marschtempo brauchte man bestimmt eine halbe Stunde, mit Beladung noch länger. Die Dämmerung leuchtete in glühenden Farben. Der umliegende Wald vibrierte in tiefer Stille, die nur von fernen, unbestimmten, langgezogenen Krächzern unterbrochen wurde, die schnell verhallten.
    Dennoch schaffte er es nicht, wieder zu Atem zu kommen. Seine Brust war zugeschnürt. Er steckte sich hektisch eine Zigarette zwischen die Lippen und drehte sich auf den Rücken. Es gab keine Alternative zum Schmerz. Schwere Prüfungen erwarteten ihn, so oder so, undenkbare Seelenqualen kreisten über ihm, nahmen Anlauf, stürzten sich auf ihn, wirbelten herum. Es war nicht so, dass er nicht gespürt hätte, wie sich das Chaos breitmachte, die Beklemmung überhandnahm, aber ihre Wucht und Heftigkeit überraschten ihn. Er rang nach Luft – was zum Rauchen nicht gerade praktisch war, aber der Tabakgeschmack in seinem Mund reichte aus, um ihn am Leben zu erhalten.
    Er ließ sich an der Felswand hinabgleiten, solange er noch dazu in der Lage war. Diesmal hatte keine Migräne den Anfall angekündigt, kein Schleier hatte sich über seine Augen gesenkt. Das war kein gutes Zeichen, schien ihm. Das war erschreckend.
    Er zwängte sich kurzerhand und mehr schlecht als recht zwischen eine kräftige Wurzel und das Gestein, um nicht in den Abgrund zu stürzen – und schürfte sich dabei die Brust und den Rücken auf –, klammerte sich fest, schloss die Augen und zog den Kopf ein.
    Als er wieder zu sich kam, war es Abend geworden – die silbern schimmernde Himmelsscheibe schwebte etwa zwanzig Meter über ihm. Er atmete normal. Er war unversehrt. Er hatte sich nicht die Zunge abgebissen. Inzwischen schienen der Mond und einige Sterne, und alles wirkte wie erstarrt. Die Gefahr war vorüber, er fühlte sich besser. Nur etwas klamm. Und die Kieferknochen schmerzten, und der Nacken war noch etwas steif. Aber er war beruhigt, erleichtert, aus dem Schneider. Er legte für einen Moment seine Wange an die feuchte Felswand und bedankte sich – bei wem oder was auch immer an diesem Ort umgehen mochte.
    Er sah zu dem fast grellen Lichthof auf, der im stillen Dunkel glitzerte, und musste schließlich lächeln. Er fühlte sich besser. Es war unmöglich zu erklären, warum ihn diese seltsame neue Angewohnheit stärkte, warum es ihn wieder mit Leben erfüllte, wenn er sich für einen Moment ins Innere der Erde flüchtete – ja ein noch besseres, sorgloses Leben zu versprechen schien, das sich in ungekannte Höhen aufschwingen konnte, voller Vertrauen und Gewissheiten, beständiger denn je. Es war unmöglich zu ergründen, wie der Zauber funktionierte – es war eindeutig eine Art magische und mysteriöse Droge, die er sich zuführte, indem er bei dieser Felswand Zuflucht suchte, die feucht und dunkel war, mächtig, verwildert, bemoost und stachelig wie die Kehle eines Monsters.
    Aufgemuntert. Das traf es genau. Er grinste noch eine Weile vor sich hin, dann schälte er sich heraus und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Er zitterte in seiner Kleidung voller Schweiß und Erde. Aber er

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