Die Rastlosen (German Edition)
Dann riss er eine Seite heraus und warf es aus dem Fenster.
Es sei immer interessant zu sehen, verkündete er, wo der Zug entgleiste, wo ein Satz die Schwächen, die Überheblichkeit, das Scheitern, das Provinzielle seines Autors offenbare. Er schrieb den ersten Satz, der ihm unter die Augen kam, an die Tafel. Der endete wie alle anderen, nämlich in einem vorhersehbaren Fiasko, einer fehlgeschlagenen Zirkusnummer, einer grandiosen Touristenfalle. Was für ein unglaubliches Selbstwertgefühl musste man haben, um auf diese Art zu schreiben, wie verblendet musste man sein. Was für eine armselige Literatur propagierte man da eigentlich in all diesen Zeitschriften – und was für ein lächerliches und groteskes Mitläufertum wurde bei dieser Gelegenheit ersichtlich.
Er trat einen Schritt zurück und betrachtete die vier Zeilen an der Tafel.
Manchmal schien die Schlacht verloren. Wenn man gegen Semesterende diese Art Literatur in den Sachen seiner Studenten vorfand, löste das ein Schwindelgefühl aus und den Wunsch, alles hinzuwerfen.
»Seht euch das an. Seht euch diese Geschmacklosigkeit an«, sagte er kopfschüttelnd. »Habt Erbarmen und gebt uns Marguerite Duras zurück.«
Er nutzte die Pause, um auf dem Gang eine Zigarette zu rauchen, und stieß auf den Inspektor, der immer noch häufig auf dem Gelände herumschlich – man konnte sich durchaus fragen, wofür diese Leute bezahlt wurden, wenn man so sah, wie er mal anrückte und dann wieder abzog, Pausen in der Cafeteria einlegte, Croissant-Orgien veranstaltete und dabei ein Fußballmagazin durchblätterte, und das zu jeder nur erdenklichen Tageszeit, wie er sich im Schatten eines Zürgelbaums oder einer Linde Auszeiten nahm, die man auch als Siesta hätte bezeichnen können, usw. – und dabei immer so tat, als könne er kein Wässerchen trüben.
Mal meinte er, er müsse die Personalien eines Studenten überprüfen, dann wieder, er müsse jemanden vernehmen, und schließlich schützte er eine gestohlene Kreditkarte vor, aber vielleicht schätzte er ganz einfach, obwohl er verheiratet war, die Gesellschaft der zahlreichen jungen Frauen auf dem Campus, die zu dieser Jahreszeit nur spärlich bekleidet waren und sich daher perfekt dazu eigneten, dass man sich mal ordentlich an ihnen sattsehen konnte. Richard Olso wusste auch nichts Genaueres über die Anwesenheit des Polizisten in ihren Räumlichkeiten, außer dass sich etwas dahinter verbarg, dass der Inspektor bei seinen Schnüffeleien natürlich irgendetwas suchte, irgendeinen verborgenen Zusammenhang, aber Richard hatte sowieso nichts gegen diese Extraportion Sicherheit einzuwenden, seit die Amokläufe sprunghaft zunahmen, seit Jugendliche Spaß daran fanden, auf andere zu schießen, bevor sie sich selbst wegpusteten.
»Glauben Sie etwa, dass sie noch am Leben ist? Glauben Sie nicht, dass man sie abgemurkst hat?«, gluckste Richard. »Von mir aus, mein Lieber, kann dieser Polizist so lange bei uns herumspazieren, wie er Lust hat. Ich lege keinen Wert darauf, von irgendeinem kleinen durchgeknallten Idioten niedergeschossen zu werden. Oder von einem dieser Psychopathen. Ich persönlich frage mich, ob wir nicht bewaffnet sein sollten.«
Wie sollte er da Marianne der Obhut von Richard überlassen? Die Frage war doch legitim.
Als er an diesem Abend heimwärts fuhr, nach einem anstrengenden Tag, der mit der besagten Unpässlichkeit des vegetativen Nervensystems begonnen hatte und mit der Lektüre studentischer Arbeiten, über die er sich nicht weiter auslassen wollte, geendet hatte, stieß er einen langen, resignierten Seufzer aus – die Seminare waren bald vorbei, so dass er ihnen bald nichts mehr über Stil und Sprache erzählen musste, darauf freute er sich mehr als auf alles andere, denn kein Einziger von ihnen schien zu verstehen, was er meinte, jedenfalls war kein Einziger in der Lage, den richtigen Ton anzuschlagen, kein Einziger besaß genug Bescheidenheit und Wagemut zugleich, um auch nur drei Zeilen zu schreiben, die irgendwie von Belang waren. Das Niveau hatte sich auch dieses Jahr wieder als schlecht erwiesen. Aber was hat Schreiben denn sonst für einen Sinn?, dachte er, während das bernsteinfarbene Licht in den dunklen Wald fiel.
Er fragte sich jedes Jahr aufs Neue, ob er nicht aufhören sollte – und er hätte es bestimmt gemacht, wenn Marianne nicht gewesen wäre. Bei seinen ausgedehnten Waldspaziergängen kam er immer öfter zu dem Ergebnis, dass es an der Zeit wäre, seine Tätigkeit an der
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