Die Rebellin
schwanken, und während er, das Messer vor sich, noch einen Schritt auf den verängstigten Toby zu machte, schien er immer weiter in die Höhe zu wachsen. Robert runzelte die Brauen, um seine fleischigen Lippen spielte ein Lächeln, und seine dunklen Augen flackerten vor Erregung, als würde er einem Rattenkampf zusehen oder einer schönen Frau, die sich für ihn auszog. Auch die anderen Gesellen hielten den Atem an. Toby sank noch tiefer zu Boden, obwohl sich offenbar alles in ihm dagegen sträubte, während er immer wieder zu Mr. Finch aufsah, als würde er hoffen, dass der Meister ihn in letzter Sekunde erlöste. Plötzlich, ohne zu wissen warum, hatte Victor das Gefühl, dass sich in diesem Moment das Schicksal des Jungen entschied: Wenn Toby den Befehl des Meisters ausführte, war er für immer verloren.
»Tu’s nicht«, flüsterte er.
Doch Toby hörte ihn nicht. Er sah nur Mr. Finch und das Messer. Mit zitternder Hand tauchte er sein Hemd in das Erbrochene.
Da packte Victor die Wut. Er sprang vor, riss Toby das Hemd aus der Hand und klatschte es Mr. Finch ins Gesicht.
In der Werkstatt war es auf einmal so still, das man das Bohren der Holzwürmer zu hören glaubte. Alle Augen waren auf den Meister gerichtet, in Erwartung eines fürchterlichen Anfalls.
Aber nichts dergleichen geschah. Mr. Finch riss die Augen auf, in grenzenloser Blödigkeit, das Gesicht von seinem Erbrochenen über und über verschmiert, taumelte zurück wie ein Boxer, links und rechts nach einem Halt tastend, und ohne ein Wort stolperte er zur selben Tür hinaus, durch die zuvor seine Frau verschwunden war, unter dem hochmütigen Blick der in Öl verewigten Daisy.
5
Kaum hatte Mr. Finch die Werkstatt verlassen, brachen die Gesellen in ein Geheul aus, als wollten sie böse Geister vertreiben. Für heute war die Arbeit beendet. Während sie ihre Schürzen in die Ecke warfen, ließen sie eine Flasche Gin kreisen, die Robert wie aus dem Nichts hervorgezaubert hatte.
»Auf deinen Sieg!«
Victor schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich das Zeug nicht mag.« Er war wütend – wütend auf sich selbst. Hundertmal hatte er sich geschworen, dass ihm so etwas nie wieder passieren würde, und trotzdem hatte er die Beherrschung verloren, genauso wie damals. Und das wegen eines verfressenen Lehrjungen, der ihm so gleichgültig sein konnte wie das Läuten von Big Ben und außerdem alt genug war, um auf sich selber aufzupassen.
»Dann übernehme ich deinen Schluck!«
Toby griff nach der Flasche, doch bevor er sie an die Lippen setzten konnte, haute Victor ihm eine runter.
»Mach du lieber die Kotze weg!«
»Au! Bist du verrückt geworden?«
»Los! Schnapp dir den Eimer! Wird’s bald?«
Er gab ihm einen Tritt in den Hintern, und Toby stolperte davon. »Was soll das denn?«, fragte Robert. »Wir haben allen Grund zu feiern! Endlich hat Finch bekommen, was er verdient.« Dann wurde sein Gesicht ernst, und er rückte Victor so nahe, dass dieser den Fusel in seinem Atem riechen konnte. »Es wird Zeit, dass wir uns noch ein paar mehr von den Schweinen vorknöpfen.«
»Fängst du schon wieder an?«
»Gewalt ist die einzige Sprache, die sie kapieren. Du hast es doch selber vorgemacht.«
Victor wandte sich ab. Er kannte Roberts Reden auswendig und wusste, wohin sie führten: direkt zurück in die Tretmühle. Robert gehörte zu den »Destructives«, den Gewaltmännern, die sich Joseph Raynor Stephens zum Idol erkoren hatten, einen fanatischen Kanzelprediger aus Stalybridge, der mit Hass die Welt von allen Übeln befreien wollte. Seine Gefolgsleute waren nur darauf aus, Angst und Schrecken zu verbreiten, ohne zu sagen, wie sie das Bestehende zum Besseren verändern wollten. »Liebe hat die Welt versklavt, nur Hass kann sie befreien«, lautete ihr Credo. Victor hatte es darum schon lange aufgegeben, sich mit Robert zu streiten, und er hatte auch diesmal nicht vor, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Doch als er sich die Hände in dem Wasserfass neben der Druckpresse wusch, sah er das Leuchten in Tobys Augen, der Robert voller Bewunderung anschaute, während er mit einem Eimer Mr. Finchs Hinterlassenschaft fortspülte.
»Statt von Gewalt zu faseln«, sagte Victor, »solltest du lieber unsere Petition unterschreiben.«
»Du meinst, freies Wahlrecht und so?« Robert verzog das Gesicht. »Kastriertes Chartistengewäsch. Nichts als leere Worte.«
»Wenn alle Arbeiter und Handwerker unsere Forderungen unterstützen, muss die
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