Die Rebellin von Leiland 1: Maske (German Edition)
überwachen sollen, die sie überqueren?«
Eline blickte über die Brüstung. Ihre geschmückte Schleppe, die wie ein Schild von ihrem Halsausschnitt herabhing, glitt über die langen, fließenden Ärmel aus elfenbeinfarbener Spitze.
»Ich bin mir sicher, dass diese monströsen Geschöpfe genauso kompliziert wie das Wetter sind. Irgendetwas an ihren Reaktionen ist immer unberechenbar. Niemand sollte ihnen die wichtige Rolle zugestehen, über ein Menschenleben zu urteilen.«
Aus ihrer Sicht war das eine unbegründete Entscheidung ihres Vaters – genauso unsinnig wie seine Besessenheit von der Zahl drei!
Leicht außer Atem erschien eine reizlose Frau mit geschürzten Lippen. Mit einer geschmeidigen und anmutigen Bewegung raffte die junge Prinzessin diskret die Röcke, um ihrer wieder erschienenen Anstandsdame den Rücken zuzukehren, und setzte ihren Spaziergang den Wehrgang entlang fort. Andin reichte ihr den Arm und zeigte sich amüsiert über dieses Versteckspiel in den zahlreichen Geheimgängen, die sich in der Königsburg verbargen.
Den ganzen Morgen über fiel es Andin sehr schwer, den Schleier vor Elines Gesicht zu ertragen. Aber er beherrschte sich. Unter der hochmütigen Überwachung durch die alte Jungfer Mistra war die Prinzessin so taktvoll, auf all seine Fragen über die Legenden von Leiland zu antworten, um ihn zumindest ein bisschen zufrieden zu stellen:
»Dass man in diesem Land einen zweiten Mond sieht, rührt von der Gegenwart der Höllischen Nebel her«, erklärte sie beinahe flüsternd, um ihre Anstandsdame zu reizen. »Nachts erstrecken sich diese Dünste über einen Großteil des Himmels, ebenso ihre Kraft, Illusionen zu schaffen. Die Mondspiegelung ist eigentlich ein Auswuchs der gemeinsamen Vorstellungskraft der Leiländer. Wir sprechen von zwei Gestirnen, weil sehr häufig nur die Spiegelung den Himmel erhellt. Leiland bedeutet übrigens ›Zwei Monde‹, deshalb findet man sie auch im Wappen des Königreich … Dieser Traum von einem zweiten, materialisierten Gestirn enthüllt vielleicht unsere Furcht vor der Dunkelheit oder unseren Unwillen darüber, diesen Anblick nicht jeden Abend zu haben.«
Ihr Tonfall war sanft und beruhigend, als würde sie eine Geschichte erzählen. Mit dem geheimnisvollen Unterton, der so gut zu den Bewohnern dieses Landes passte, enthüllte sie ihm, dass die letzte vollkommen dunkle Nacht vierhundert Jahre zurücklag und dass die Amalysen und Sarikeln zum selben Zeitpunkt erschienen waren wie das Ungeheuer des Verbotenen Waldes.
Moiré, Krepp, Taft, Satin und Damast belebten mit ihrem Schimmer und ihren kräftigen Farben den großen Thronsaal. Durchwirkt oder bestickt wärmten sich diese zarten Seidenstoffe an diesem Abend an Samt und Pelzen. Schleier, Musselin und Spitzen fielen über die Gewänder und quollen aus weiten Ärmeln hervor, wobei sie in ihrer Leichtigkeit bei jeder Bewegung und jedem Applaus flatterten. Gold und Edelsteine gaben sich die Ehre: Kein einziger Frauenhals funkelte nicht in ihrem Feuer.
All dieser Reichtum machte Andin schwindelig. Seit langem nahm er schon nicht mehr am Wahnsinn der Bälle und Empfänge des Hofs von Pandema teil. Wenn er in seinen Palast zurückkehrte, suchte er seine Brüder wie ein Dieb auf – sehr zum Missfallen seines Vaters –, indem er über Mauern kletterte oder unter Mithilfe einiger treuer Bediensteter durch Fenster stieg. Aber der üppige Reichtum seines Schlosses erschien ihm nicht so unverschämt wie dieser hier. Vielleicht, weil in Pandema draußen auf dem Lande und in den Städten niemand im Elend lebte.
Heerscharen von Dienern hatten große Silbertabletts aufgetragen, die mit Hähnchen am Spieß, Rehkeulen, gebratenem Wildschwein, Forellen und gefüllten Singvögeln beladen waren und so den Ton des Abends vorgegeben hatten. Berge verschiedener Speisen und Ströme von Wein waren endlos aufeinander gefolgt, selbst als jeglicher Hunger und Durst längst gestillt waren. Angesichts dieses Überflusses, der an dekadente Orgien erinnerte, war Andin froh, als die Tische hinausgetragen wurden, während Possenreißer, die mit brennenden Fackeln jonglierten, die Gäste zu den Vorführungen baten.
Beleuchtet von den Flammen der gewaltigen Marmorkamine folgten nun vor dem Thron Gauklerauftritte und musikalische Darbietungen aufeinander.
Andin nutzte seinen Ehrenplatz mit leichter Bitterkeit, die er vor der schönen Prinzessin an seiner Seite zu verbergen versuchte. Sie kam ihm so glücklich, so strahlend
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