Die Rebellin von Leiland 2: Das Gift des Herzogs (German Edition)
Sogar unter der Folter sprechen die Krieger nie darüber. Ich sehe in deinem Kopf Bilder von dir, wie du über den Burghof gehst. Du denkst daran zurück, wie du Muht begegnet bist – und daran, dass du so getan hast, als wärst du einer von Kortas bösen Männern. Ich hätte dir auch geglaubt. Ich sehe nur, was du jetzt denkst, und zwar nur als Bild. Es ist nicht wie bei Imma, die von selbst weiß, wer du bist und wie du heißt. Aber dein Geist läuft schneller, als du annimmst, du hast plötzlich Angst, dass ich all deine Geheimnisse sehen könnte, und ich sehe sie. Weil du daran gedacht hast.«
Andin richtete sich auf.
» Ich werde auch nichts verraten«, beruhigte Chloe ihn.
» Das ist verstörend«, brachte Andin hervor. » Und du…«
» Ich weiß es nicht. Wenn ich das Gesicht sehe, kann ich den Geist lesen. Aber wenn ich eine Person gut kenne, spüre ich sie sehr weit entfernt. Ich wusste, dass es Tanin auf der Burg gut ging.«
» Ach ja?«, rief der kleine Junge hinter ihnen.
» Ja«, antwortete Chloe und wandte sich ihm zu. » Ich habe keine Bilder deiner Gedanken gesehen, aber ich wusste, dass es dir nicht schlecht ging.«
» Also können die Scylen die Gegenwart anderer spüren? Sie können auch feststellen, wo sie sind?«, fragte Andin.
» Ich kenne jeden hier, ich kann spüren, ob es Vic oder Papa gut geht, aber ich kann nicht sagen, wo sie sind, wenn sie kämpfen. Bei unserem Freund Gyl habe ich nichts gespürt: Er ist nie in den Verbotenen Wald zurückgekehrt. Seinen Geist habe ich nicht gesehen. Ich wusste nur, dass er tot war, weil das allen sehr wehgetan hat. Und weil sie noch viel daran denken.«
» Du hast seinen Tod gesehen. Das heißt…«
» Ja, wenn du an einen Kampf zurückdenkst, dann sehe ich ihn, mit dem Blut, den verzerrten Gesichtern und der Wut.«
Ihre versteinerte Miene wich einem leichten Lächeln.
» Ich bin daran gewöhnt. Doch niemand weiß, dass ich das schon immer gesehen habe. Nun hältst du mich nicht mehr für monströs. Das ist lieb, aber du brauchst kein Mitleid mit mir zu haben.«
» Entschuldige. Ich habe noch nie ein kleines Mädchen wie dich getroffen. Und ich habe nie darüber nachgedacht, welche Auswirkungen diese Fähigkeit auf die Kindheit der Scylen hat.«
Endlich lächelte sie richtig. » Ich bin nicht gezwungen zu sehen. Ich entscheide mich dafür.«
» Und…«
» Und das ist nicht anstrengend. Auch nicht anstrengender, als ein Buch zu lesen.«
Trotz Chloes ernster Worte bildete sich ein Grübchen in Andins Wange. Lässt sie mich endlich einmal ausreden?
» Wozu?«
» Es hätte keinen Zweck, das gebe ich ja zu. Aber ich würde mich weniger bloßgestellt fühlen. Wie kannst du wissen, welche Fragen ich mir stelle, wenn du nichts hörst?«
» Weil ich sie errate! Gedanken sind weit schwieriger als Erinnerungen, manchmal sehe ich nur eine Folge von Lösungen oder absonderliche Dinge, die man verstehen muss: Es gelingt mir nicht immer, aber ich rätsele gern.«
Sie lächelte wieder ganz entzückend wie ein kleines Mädchen. Die nächste Frage ließ sie den jungen Mann vollständig stellen: » Wenn ich meine Gedanken kontrolliere, kann ich dir dann alles Mögliche vormachen?«
» Wenn du aufhören kannst, an Victoria zu denken, ja.«
Andin richtete sich wieder auf, betroffen und äußerst beschämt. Ihm war noch nicht einmal bewusst gewesen, dass die junge Frau ständig seinen Geist beschäftigte. Es machte ihn nur umso verlegener, dass Chloe sich besser darüber im Klaren war als er selbst. Das ist ihrem Alter nicht angemessen!
» Ich bin kein ganz kleines Mädchen mehr, ich bin schon fünf Jahreszeiten der Grünen Blätter alt!«
Sie stieg vom Bett und ging zu Tanin, der eine fragende Miene zur Schau trug.
» Nun habe ich alles gesagt. Ich wüsste selbst auch gern, ob ich genauso sehe wie die Scylen.«
Sie schob ihre Hand in die Tanins und ging auf die Tür der Hütte zu. Tanin flüsterte ihr sofort etwas ins Ohr.
» Er liebt sie so sehr, wie Papa Mama liebt«, antwortete sie und warf einen letzten verstörenden Blick auf Andin. » Er wird wiederkommen, das steht fest.«
Tanins Augen verengten sich zu Schlitzen, aber er sagte nichts. Melanie und Erby schlossen sich den beiden an, um hinauszugehen. Andin fragte sich, ob ihnen wirklich bewusst war, wozu ihre neue Schwester in der Lage war und wie schwer ihr Schweigen wog. Chloes kristallklares Lachen über irgendeinen Unsinn, den Erby geredet hatte, bewies ihm, dass sie nicht nur den
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