Die Rebellin
Frankreich, wie sie wusste, sogar schon als lebende Legende galt, die Frau, die eine türkische Armada vertrieben hatte, mit einem Prinzen verlobt gewesen war und mit den Großen der Welt getafelt und korrespondiert hatte, überlegte, ob sie es sich leisten könnte, eine hühnerstallgroße Hütte auf ihrer Heimatinsel zu erwerben!
Dass viele bedeutende Leute nach ihrem Tod der Vergessenheit anheim fallen, ist wohl normal, dachte sie, Geschichte hat eben ein selektives Gedächtnis. Aber dass jemand, der Wichtiges in seinem Land bewirkt hat, als noch nicht einmal alter Mensch von der gesamten Umwelt ignoriert wird, ist schon seltsam. Auf den einfachen Spruch, dass Undank der Welt Lohn sei, wollte sich Mando nicht zurückziehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben suchte sie die Schuld bei sich. Irgendwann hatte sie eine falsche Entscheidung getroffen, den verkehrten Weg eingeschlagen.
Marcus, dachte sie, aber kann etwas, das so viel Glück gegeben hat, wirklich falsch gewesen sein? Nein, ihr Fehler lag woanders: Sie hatte zu viel gewollt, Liebe, Macht, Ruhm, Reichtum und nie daran gezweifelt, dass ihr dies alles zustand. Ich bin sogar noch schlimmer als meine Mutter, dachte sie, Zakarati bewegte sich ausschließlich innerhalb der streng gezogenen Grenzen ihrer Klasse, während sie selber alle Tabus durchbrochen und trotzdem gesellschaftliche Anerkennung gesucht hatte. Mein ganzes Leben lang habe ich Rollen gespielt, dachte sie, die Rolle der aufmüpfigen Tochter aus gutem Haus, die Rolle der gelehrigen Schülerin, die Rolle der Heldin, die Rolle der Verführerin, die Rolle der Verlobten und die Rolle der zu Unrecht Verlassenen. Wer hat sich hinter all diesen Rollen versteckt? Wer ist Mando Mavrojenous wirklich? Wann habe ich nicht Theater gespielt? Wenn ich mit Marcus zusammen war. Aber Marcus gibt es in meinem Leben nicht mehr.
Vassiliki fand es erstaunlich, dass sich Mando auf einmal mit ihrem Los abgefunden zu haben schien. Der erwartete Anfall von Melancholie blieb aus, stattdessen stürzte sich Mando auf Projekte der Nächstenliebe. Sie besuchte Arme und Kranke, fand es nicht mehr unter ihrer Würde, der immer älter und schwächer werdenden Vassiliki im Haushalt zu helfen und richtete ein kleines Büro ein, wo sie den des Lesens und Schreibens Unkundigen Briefe vorlas und schrieb. Das brachte sie auf die Idee eine kleine Schule für die Kinder der Insel zu gründen. Der Gedanke, dass ihre eigene Tochter als Analphabetin durchs Leben gehen würde, gefiel ihr gar nicht. Sobald Lambrini alt genug war, würde Mando eine Dorfschule eröffnen, und dann hätte sie Gelegenheit das Kind ihrer Liebe kennen zu lernen.
Aber für diesen Plan brauchte sie Geld. Da seit ihrer Rückkehr nach Mykonos das Taschengeld der Regierung ausgeblieben war, sah sie sich gezwungen, wieder nach Nauplia zu reisen. Sie hatte unzählige Briefe an Kapodistrias und beinahe alle Minister geschrieben, um die zugesagte Unterstützung gebeten und immer mit ›die Patriotin Mavrojenous‹ unterzeichnet. Auf Antwort wartete sie vergebens. Mando Mavrojenous spielte keine Rolle mehr.
»Ich werde wieder betteln gehen müssen«, sagte sie eines Abends zu Vassiliki, nachdem sie von einem Besuch in Kalo Livadi zurückgekommen war. Sie hatte sich angewöhnt mindestens einmal wöchentlich zur Hütte zu reiten. Stundenlang saß sie dann im Schatten von Philemon und Baucis auf der Steinbank vor dem Häuschen und schaute übers Meer. Anfangs hatte sie noch über ihr Leben, die Vergangenheit und Zukunft, über Marcus, Ypsilanti und Lambrini nachgedacht, später merkte sie, dass es ihr viel besser tat, an gar nichts zu denken.
Welch ein Luxus, dachte sie manchmal, ich kann es mir erlauben, stundenlang aufs Wasser zu schauen und meinen Kopf ganz leer zu halten. Hinterher fühlte sie sich jedes Mal seltsam erfrischt.
An diesem schönen Sommertag aber war sie zum Strand hinuntergegangen, hatte all ihre Kleider abgestreift und genau an der Stelle niedergelegt, wo sie viele Jahre zuvor zum ersten Mal Marcus umarmt hatte. Sie stürzte sich ins Wasser, schwamm weit hinaus und blickte immer wieder hinter sich zu den Hügeln von Kalo Livadi. Wenn jetzt nur wieder der einsame Reiter käme! Aber er war Bürgermeister auf Paros und würde sich nie wieder mit ihr am Strand wälzen.
Als sie aus dem Wasser stieg, legte sie sich auf ihre Kleider und ließ sich von der Sonne erwärmen. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie und unwillkürlich griff sie sich zwischen die Beine.
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