Die Rebenprinzessin
Gefühl. Ihr Magen zog sich angesichts der Höhe schmerzhaft zusammen, und die Angst ließ sie einen Moment lang zögern.
Ist es das wert?, fragte Bella sich.
Die Antwort lautete eindeutig ja, beinahe brüllte die Stimme ihres Herzens sie durch ihren Verstand. Die junge Frau atmete tief durch, rang ihre Angst so weit es ging nieder und ließ sich schließlich an dem Seil hinunter.
Obwohl Huldas gute Küche nicht viel gegen ihre mehr als schlanke Figur ausgerichtet hatte, knarzten die Fasern leise und warnten sie vor dem Fall.
Die Panik, das Seil könnte reißen, überkam sie wie damals beim Laken, und ein feuchter Film legte sich auf ihre Hände. Während ihr Herz raste, fragte sich Bella, welche Chance sie wohl hätte, einen Sturz aus dieser Höhe zu überleben. Wahrscheinlich keine. Also krallte sie ihre Hände noch fester an das Seil und kletterte Stück für Stück hinunter.
Einmal mehr dankte sie ihrer Sturheit, die sie auch während des Aufenthaltes im Kloster dazu gebracht hatte, sich körperlich zu ertüchtigen.
Unten auf dem Hof war alles still. Die junge Frau wusste nicht genau, welche Stunde es geschlagen hatte, aber anhand des Mondstandes glaubte sie, dass es gegen Mitternacht war.
Bella hatte keine Ahnung, ob Martin heute schon auftauchte. Wenn nicht, versuchte sie es eben morgen noch einmal. Da sie ohnehin dazu verdammt war, den ganzen Tag in ihrer Kemenate zu sitzen, war ihr die Bewegung willkommen.
Da das Seil nicht ganz bis zum Boden reichte, sprang sie ab, als sie sich etwa eine Armlänge über dem Boden befand. Ein Kribbeln zog durch ihre Fußsohlen, doch in ihrer Anspannung nahm sie es kaum zur Kenntnis. Sie spähte hastig über den Burghof und lief dann hinüber zu Katrinas Behausung, deren Fensterläden schon seit langem geschlossen waren. Glücklicherweise, denn die alte Frau hätte sicher nachgefragt, was ihr Schützling zu solch später Stunde noch auf dem Hof zu tun hatte.
Bella wollte der Frau, die ihr mehr Liebe entgegenbrachte als ihr eigener Vater, keine Lüge auftischen.
An der kleinen Pforte spähte sie noch einmal den Weg entlang, den sie gekommen war, dann öffnete sie das Gatter und schob einen Stein vor die Schwelle.
Jetzt musste sie Martin im Weinberg nur noch finden …
Martin hatte das neue Rebenfeld noch nicht erreicht, da nahm er in seinem Rücken eine Bewegung wahr. Als er herumwirbelte, erkannte er Bella. Sie trug wieder ihr Ordenskleid, und weil die Nacht kalt war, noch einen Mantel darüber. Die Kapuze hatte sie heruntergeschlagen, so dass ihr Haar im Wind wehte. Der Mond beleuchtete ihre Gestalt und ließ ihr Gesicht beinahe weiß aussehen. Wie die Gesichter der Statuen in der Universität von Padua, dachte Martin und verschob sein Vorhaben, nach dem Ableger zu schauen.
»Nun denn, holdes Fräulein, um Euren Schlaf ist es wirklich nicht gut bestellt«, sagte er und beobachtete, wie sie zusammenschrak.
Dann flammte ein Lächeln auf ihrem Gesicht auf. »Martin!«, rief sie, und wenig später umfing sie ihn mit beiden Armen. Bevor er etwas sagen konnte, beugte sich Bella vor und küsste ihn.
Martin erwiderte den Kuss und spürte dabei nur zu deutlich die Leidenschaft, die in ihr wütete. Auch schmeckte er den Wein in ihrem Mund, obwohl sie ihn wohl schon vor einiger Zeit getrunken haben musste.
»He, nicht so stürmisch«, sagte er lächelnd, während er mit den Daumen über ihre Wangen strich. »Das schickt sich nicht für eine sittsame Grafentochter.«
Bella hob spöttisch die Augenbrauen und blickte sich dann gespielt um, als wollte sie hinter sich jemanden suchen. »Siehst du hier irgendwo eine sittsame Grafentochter? Ich sehe nur eine Weinbäuerin, die sich mit dem Mann trifft, der ihr nicht mehr aus dem Sinn gehen will.«
Martin lächelte breit, dann entgegnete er mit gespielter Strenge: »Auch für eine Weinbäuerin gelten Tugend und Anstand.«
»Pah, Tugend und Anstand!«, rief sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn es danach ginge, was mein Vater als Tugend und Anstand betrachtet, wäre ich jetzt wohl schon mit Roland von Hohenstein verheiratet. Heute war er erneut so gnädig, mir klarzumachen, dass ich in seinen Augen überhaupt nichts wert bin.«
Martin schüttelte den Kopf. »Das hat er dir doch nicht so gesagt, oder?«
»Nein, aber er hat es so gemeint. Er sagte, die Burg und das Weingut gingen an seinen Schwiegersohn, und zwar egal, wer es denn nun wird.«
Martin lag dazu eine Bemerkung auf der Zunge, doch er schluckte
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