Die Rebenprinzessin
Blick. Martin klopfte die Fässer ab und durchsuchte jeden noch so winzigen Winkel daneben oder dahinter.
Die kleine Tür, bei der er schließlich ankam, war verschlossen. Ein Schlüssel steckte nicht, aber vielleicht bekam er es mit einem Messer geöffnet. Martin zog den Dolch, der mit in der Tasche gelegen hatte, aus dem Stiefelschaft und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Dabei kam er recht bald zu der Erkenntnis, dass es besser gewesen wäre, Giacomo hierher zu schicken.
Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen gab er schließlich entnervt auf. Er musste einen Weg finden, um an die Schlüssel zu gelangen! Diese befanden sich allerdings am Schlüsselbund des Kellermeisters, und wahrscheinlich würde dieser ihm bei dem Versuch, sie zu stehlen, die Ohren abreißen.
Nachdem Bella die kleine Gitterpforte hinter sich gelassen hatte, erreichte sie über einen schmalen Weg die Familienkapelle der Familie Katzenburg, deren Turm finster in die Nacht ragte. Ein mächtiges Kreuz erhob sich davor, zwei Engel bewachten die Pforte.
Zu früheren Zeiten war Pater Anselm der Hirte dieses Gotteshauses gewesen. Ihn hatte sie heute noch gar nicht in der Burg gesehen, entweder war er nicht mehr auf seinem Posten, oder er hatte in einem der umliegenden Dörfer zu tun. Aber es war ihr recht, dass niemand da war, der sie in ihren Gedanken störte.
Da sie wusste, dass die Tür der Kapelle wie die jedes gewöhnlichen Gotteshauses zu allen Zeiten offen stand, drückte sie die Klinke herunter und tauchte in die nach erkaltetem Weihrauch duftende Dunkelheit ein.
Mondlicht fiel durch die hohen Fenster und beleuchtete beinahe gespenstisch die Bänke und den Altar. Kerzen brannten hier zu Nachtzeiten nicht, aber um ihr Ziel zu finden, brauchte Bella kein zusätzliches Licht. Sie schloss die Augen, und während sie ein Bild aus der Vergangenheit in ihr Gedächtnis rief, schritt sie voran.
Sie erinnerte sich an den Tag, als ihre Mutter zu Grabe getragen worden war. Die Grabstelle befand sich traditionsgemäß im Boden unter der Kirche. Schon Tage zuvor war die Gruft bereitet worden, die sie und ihren toten Sohn aufnehmen würde.
Bella erinnerte sich an das blütenweiße Tuch, in das die beiden eingewickelt waren, und die Blumen, die auf ihren Körpern lagen. Sie hatte damals noch geglaubt, dass ihre Mutter wieder aufwachen würde, irgendwie beseelt durch die Anwesenheit im Haus Gottes oder durch die Gebete, die für sie gesprochen wurden. Aber nichts dergleichen war geschehen. Die schwere Steinplatte mit ihrem Namen hatte sich auf die Grube gesenkt, begleitet von den Gesängen der Anwesenden und dem weihrauchschwenkenden Pater. Geblieben war danach nur ein verbitterter Graf, dessen Liebe zu seiner Tochter in seinem Herzen erfroren war.
Als sie sicher war, vor der Grabplatte ihrer Mutter zu stehen, öffnete sie die Augen wieder. Tatsächlich fiel das Mondlicht auf den Namen Gabriela von Katzenburg. Der Steinmetz hatte nachträglich noch ein paar Ornamente angebracht, offenbar war ihrem Vater der Stein im Nachhinein zu schmucklos erschienen.
Acht Jahre waren vergangen, seit Bella hier das letzte Mal gestanden hatte. Vor ihrer Abreise ins Kloster hatte sie des Öfteren mit ihrer Mutter gesprochen und ihr Wiesenblumen mitgebracht.
Die Mutter Oberin hatte sie später gelehrt, dass die Seelen gen Himmel auffuhren, wo sie fern von den Lebenden in Gottes Gegenwart wohnten. Der Einzige, den ein Mensch bitten konnte, war der Herr selbst. Bella hatte der Gedanke gefallen, dass ihre Mutter sie zuweilen vom Himmel aus beobachtete und ein offenes Ohr für sie hatte.
Jetzt dagegen kam ihr die Vorstellung, einfach zu der Toten zu sprechen, seltsam vor. In den Katakomben des Klosters, wo die toten Schwestern ruhten, hatte sie gesehen, was aus einem Menschen wurde. Nichts als ein paar Knochen und vertrocknete Fetzen Fleisch blieben übrig. Nach all der Zeit war es ihrer Mutter wohl auch so ergangen. Wie konnte die Tote sie jetzt noch hören?
Dennoch kniete Bella auf der Platte nieder und legte ihre Hand darauf. Der Stein fühlte sich eisig an, und selbst die Wärme ihrer Haut konnte nicht dagegen ankommen.
»Was hättest du dazu gesagt, dass Vater mich mit einem Mann verheiraten will, der sich nicht einmal für den Weinbau interessiert?«, flüsterte sie. »Dass er mich einem Mann an die Hand geben will, den ich nicht liebe? Du hast deinen Gemahl doch geliebt, oder?«
Die Antwort war nur ein Raunen, wie es Bella nicht anders erwartet
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