Die rechte Hand Gottes
großen Fenster an, von dem aus man auf den Quai du Point-du-Jour sah.
Sobald Saturnin allein war, öffnete er seinen Koffer und packte aus. Zuerst zog er eine Fotografie hervor, die Puech kurze Zeit vor seiner Abreise aufgenommen hatte: Sie zeigte Hippolyte, Casimir, Griffu und Brise-Tout. Er stellte sie auf sein Nachtkästchen. Dann ordnete er seine Kleidungsstücke in den Schrank und in die Kommode. In eine Schublade kam nur das Zubehör seiner Webley Bulldog mit dem Fünfermagazin, die ihm Casimir zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ehe er wieder zu seinen Gastgebern ging, nahm er seine Waffe ab und legte sie zu der Schachtel mit den Patronen Kaliber 32. Er behielt seinen Gürtel um, in dem er zwanzig Napoléons und fünfzig Francs versteckt hatte. Die Börse war nur eine List von Hippolyte gewesen, um Rosalie dazu zu bringen, seinen Enkel besser zu behandeln. Der Geiz der Madame Deibler war allgemein bekannt.
»Du wirst schnell feststellen, daß die Leute geneigt sind, die Reichen zu respektieren. Zumeist ist Geld ihr einziger Beweggrund.«
»Ist das bei uns nicht so?«
» Nein, aber das kommt daher, weil wir Geld genug haben. Sonst wären wir wie alle anderen.«
Als er wieder in den Salon kam, reichte Rosalie gerade Yvon und der Nachbarin ein Gläschen Portwein. Anatole hatte seine Tochter auf dem Schoß und rauchte eine Zigarette. Er gab acht, sie nicht in die Rauchschwaden zu hüllen. Saturnin setzte sich auf den einzigen freien Stuhl, verhielt sich still und wartete darauf, daß man ihn ansprach. Rosalie hielt ihm ein Glas hin, das er nicht abzulehnen wagte. Er trank einen Schluck, stellte es auf den Tisch und rührte es nicht mehr an.
»Magst du meinen Portwein nicht?«
»Nein, Madame, er ist nicht gut.«
Die Hausherrin wurde bleich, Yvon bekam einen Schluckauf, und die Nachbarin hatte Mühe, ihre Freude zu verbergen. Alle sahen Anatole an und waren auf das Schlimmste gefaßt. Dieser musterte Saturnin aufmerksam. Schließlich sagte er mit einem kleinen Lächeln:
» Hat Hippolyte dir gesagt, daß du immer das aussprechen sollst, was du denkst?«
»Ja, er hat gesagt, daß das einfacher sei als zu lügen.«
»Da hat er sicherlich recht, aber er hat dich doch wohl auch davor gewarnt, welche bösen Folgen das nach sich ziehen kann?«
» Großvater sagt, daß die Wahrheit frei macht und daß man sich lieber vor denen hüten soll, die nicht dieser Meinung sind.«
»Woher kommt denn dieser Hinterwäldler? Etwa von einer einsamen Insel?« platzte Yvon heraus.
»Du weißt gar nicht, wie recht du hast«, murmelte Anatole und dachte an die dicke Mauer, die das Herrenhaus Pibrac umschloß.
» Es ist das zweite Mal, daß Sie diesen Ausdruck benutzen, Monsieur Yvon. Könnten Sie mir bitte sagen, was er bedeutet, damit ich mich entsprechend verhalten kann?«
Die Ankunft von Henri Desfournaux, seiner Frau Georgette und ihres Vaters Louis Rogis entband ihn einer Antwort. Anatole machte sie miteinander bekannt.
»Erinnerst du dich denn nicht an mich?« rief der füllige Louis, der immer fröhlich aussah. »Aber das ist ja kein Wunder, damals warst du nicht größer als so.«
Dabei deutete er auf seine Stuhllehne. Der »Dicke Louis«, wie ihn alle nannten, war fünfundvierzig Jahre alt und schipperte neben seiner Tätigkeit als zweiter Gehilfe einen Aussichtsdampfer über die Seine. Da er ständig Wortspiele, Kalauer, Scherze und Verrücktheiten aller Art zum besten gab, stand er in dem Ruf, ein lebenslustiger Mensch zu sein. Doch hinter dieser Fassade verbarg sich sein einzig wahrer Lebens-
inhalt, und das war das Köpfen. Denn zumindest in diesen wundervollen Augenblicken fühlte er sich wichtig.
Der Mann seiner Tochter, Henri Desfournaux, Sproß einer alten Scharfrichterfamilie aus Vierzon, arbeitete in der Entwicklungsabteilung eines Automobilherstellers. Dank seiner Kenntnisse war er viel herumgekommen, in den westlichen Ländern, aber auch in Rußland. Er war sogar in Indien gewesen, wo er sich einen Dolch, um den sich eine Schlange mit gespaltener Zunge rollte, auf das Handgelenk hatte tätowieren lassen. Es war seine Frau gewesen, die ihn dazu überredet hatte, Anatoles zweiter Gehilfe zu werden. »Das wird dich nicht daran hindern, weiter deinen Beruf auszuüben, und wir hätten elftausend Francs mehr im Jahr.« Seit seiner ersten Hinrichtung träumte Henri davon, oberster Scharfrichter zu werden (mit einem Jahreseinkommen von fünfundzwanzigtausend Francs). Für ihn stellte die
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