Die Regentin (German Edition)
Ungebärdigkeit: Dies war, als sie mit Godiva in einen bösen Streit geriet.
Die ziegengesichtige Nonne hatte seit jener schrecklichen Nacht noch eine Rechnung mit ihr offen, und während alle anderen sich ungern daran erinnerten, hätte sie gerne über Bathildis’ Respektlosigkeit gesprochen. Allein der klaren Anweisungder Äbtissin, fortan über das Ereignis zu schweigen, konnte sie sich nicht verweigern. So musste sie sich einen anderen Anlass suchen, es dem Mädchen heimzuzahlen.
Sie tat es beim Unterricht im Skriptorium, wo sich die Jüngsten von ihnen versammelten, die nicht kräftig genug waren, die Spuren der Zerstörung wieder zu beseitigen. Am Vormittag, zwischen der zehnten und zwölften Stunde, waren Bücher an die Mädchen ausgeteilt worden, auf dass sie sie still für sich lasen. Nach dem Mittagsmahl wurde nun abgefragt, wie viel sie davon behalten hatten.
Bathildis bot bei dieser Aufgabe ansonsten wenig Anlass zum Tadel. Sie empfand das Lesen nicht als lästige Pflicht, sondern als angenehmen, vielleicht ein wenig zu stillen Zeitvertreib und hatte keine Mühe, den Inhalt von Büchern und Abschriften zu behalten.
Hereswith war heute die Erste, die geprüft wurde – mit lächerlich einfachen Fragen, wie die anderen Mädchen mit unterdrücktem Stöhnen bekundeten, neidisch, dass dem Mädchen derart entgegengekommen wurde.
Godiva fragte schlichtweg biblische Geschichten ab.
»Wer ist zwei Mal gestorben?«, begann sie.
»Lazarus«, seufzte Hereswith erleichtert.
»Wer hat den Herrn verleugnet?«
»Simon Petrus«, sagte Hereswith schnell.
»Welcher war der Lieblingsjünger des Herrn?«
»Johannes.«
Hereswiths Gesicht war trotz der richtigen Antworten glutrot angelaufen, doch anstatt sich an der Unsicherheit des Mädchens zu weiden – wie sie es ansonsten manchmal tat –, ließ Godiva von ihr ab und befahl ihr, sich wieder zu setzen.
Scheinbar suchend blickte sie sich um, als wüsste sie noch nicht, welches der Mädchen als nächstes an der Reihe wäre. Doch dann schon neigte sie sich über Bathildis’ Schultern und verlangte, dass sie sich erhob.
Bathildis war groß gewachsen für ihre fünfzehn Jahre – sie starrte der anderen direkt ins Gesicht.
»Es heißt, du wirst nicht mehr lange bei uns bleiben«, sprach Godiva mit verächtlicher Stimme. »Es heißt, der Sohn eines Fürsten wird dich zur Gemahlin nehmen...«
Sie spuckte die Worte aus, als wäre dies das erbärmlichste Geschick, das man sich denken konnte.
»So wollen wir denn auch sehen, ob du hier genug gelernt hast!«
Alle Gesichter ruhten auf Bathildis. Eine sachte Röte überzog ihr Gesicht, weil sie derart im Mittelpunkt stand. Doch zugleich straffte sie ihre Schultern – immerhin war sie kein kleines Mädchen mehr, sondern jene, die diese Gemeinschaft gerettet hatte.
»Also«, sprach Godiva missgünstig, »ich möchte, dass du mir die sieben Tugenden einer christlichen Ehefrau nennst. Du solltest sie gut kennen.«
Bathildis schluckte. Es wäre ihr leichter gefallen, einen Psalm zu zitieren – oder aber aus dem Buch, das sie an den letzten Vormittagen zu lesen beauftragt gewesen war. Doch Godiva schien ihr den leichten Erfolg zu missgönnen – und sie wiederum wollte der andere keine Schwäche zeigen.
»Benignitas«, setzte sie zögernd an, »das ist die Gutmütigkeit... Sobrietas, die nüchterne Besonnenheit... und Sanftmut – Mansuetudo.«
Sie stockte und überlegte.
»Das sind erst drei!«, lachte Godiva triumphierend.
»Patientia«, fuhr Bathildis fort, »die Geduld... und Lenitas, die Milde.«
»Erst fünf!«, kreischte Godiva.
Bathildis’ Gedanken durchstreiften hektisch ihr Gedächtnis, doch irgendwann war es ihr, als würden sie sich nur mehr im Kreise drehen. Gutmütigkeit, Besonnenheit, Sanftmut, Geduld, Milde... Gutmütigkeit, Besonnenheit, Sanftmut, Geduld...
»Prudentia!«, rief sie schließlich aus. »Die Umsicht!«
Godiva nickte grimmig. »Das sind erst sechs.«
Wieder nahmen ihre Gedanken die Suche auf, doch diesmal stießen sie auf keine Fährte. Augenblick um Augenblick verging im gespannten Schweigen. Bathildis fühlte, wie Hereswith neben ihr mit den Füßen scharrte, als träfe sie selbst diese peinvolle Prüfung.
Geduld, Milde, Umsicht... Geduld, Milde, Umsicht...
»Du weißt es also nicht!«, sagte Godiva zufrieden. »Hab ich’s mir doch gedacht! Dass du gerade diese Tugend nicht kennst...« Sie legte eine bedeutungsschwere Pause ein, ehe sie hämisch ausrief: »Modestia! Die
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