Die Reise-Bibel
auf begleitende Höflichkeitsrituale.
»Es tut mir leid, aber wir bereiten gerade das Frühstück vor!«, antwortet Melanie Boden dem sichtlich gestressten Fluggast
auf 69b. Den wird sie im Auge behalten, der hyperventiliert ja schon beinahe.
»Ich komme später noch einmal vorbei, wenn wir die Tabletts wieder abgeräumt haben.«
Der Doktor nickt kurz. Er hat auf seinem Mittelplatz seit dem Start der Maschine vor einer Stunde bereits üppige Dosen Adrenalin
produziert, was nicht nur mit der ungewohnten Zwangslage zu tun hat, in der er sich befindet.
Wie ein Thunfisch in der Dose, denkt er, der Abstand meiner Knie zum Vordersitz quasi nicht existent. Frechheit. Er ist doch
kein Frachtgut, da könnte er ja gleich im tiefgekühlten |95| Bauch der Maschine mitfliegen, gleich neben den Koffern und den vergitterten Boxen mit den Haustieren. Und dazu noch diese
Prekariats-Brut neben ihm, um Gottes willen. Er hat diesen beiden Jugendlichen gleich beim Einsteigen angeboten, mit einem
von ihnen den Platz zu tauschen. Fenster oder Gang, das wäre ihm egal gewesen. Sie könnten so zusammensitzen, hatte er argumentiert.
Das Mädchen hat ihm nicht einmal geantwortet, sondern nur kurz mit dem Kopf geschüttelt. Der Junge hatte immerhin spöttisch
gegrinst.
»Zusammensitzen, Alter? Mit der? Lass ma’ stecken.« Dann hatte er sich Kopfhörer über die Ohren geschoben und wippt seitdem
mit seinem rechten Bein beharrlich gegen die Lehne von Dr. Megrette. Hilfesuchend wendet sich Dr. Megrette den Herrschaften in der benachbarten Stuhlreihe zu, offensichtlich die Eltern dieser Halbstarken. Die Mutter sieht
gerade nicht zu ihm hin. Der Vater, ein kleiner Mann mit eingezogenem Kopf und glasigen Augen, dessen gesamte Erscheinung
an einen zerrupften Vogel erinnert, zuckt nur entschuldigend mit den Schultern. Er sieht auch wirklich nicht so aus, als würde
ein Machtwort von ihm bei seinen Kindern etwas anderes auslösen als Belustigung. Was diese Leute bloß in Kalifornien wollen?
Die Bordbesatzung kommt mit dem Frühstück. Nach einem kurzen Blick darauf winkt er ab. Ein Croissant aus Gummimasse, in Plastikdöschen
gepresste Marmelade, eine Fruchtbox mit Mango und Melonenstreifen in ungesunden Farben, Plastikbesteck. Ein armseliger Anblick.
Wer würde so etwas essen wollen?
»Ey, Alter, kann ich dein Frühstück haben?«
Der Junge neben ihm schaut ihn interessiert an.
»Ich meine, wenn du das sowieso nicht willst?«
»Sie können mein Frühstück gerne haben, junger Mann«, antwortet Dr. Megrette, »allerdings unter einer Voraussetzung. |96| Sie hören auf, mich zu duzen, nehmen Ihren Ellbogen von meiner Armlehne und knallen während dieses Fluges Ihr Bein nicht mehr
gegen meinen Stuhl. Einverstanden?«
Er ist halt ein Geschäftsmann, der Doktor. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Der Junge neben ihm schaut ihn düster an. Was
will er denn, der alte Sack?
»Kevin Miami, setz dich gerade hin und belästige den Herrn nicht!«
Helga Glowaczki lächelt Dr. Megrette ermunternd an. Sie hat den gut gekleideten Doktor inzwischen wohlwollend zur Kenntnis genommen und innerlich geseufzt.
DAS wäre ein Mann. Feiner Anzug, adrette Frisur. Nicht so einer wie ihr Heiner. Diese Flachpfeife.
Der Junge neben ihm tauscht bereits sein leeres Tablett gegen das volle von Dr. Megrette.
»Haben Sie denn wirklich keinen Hunger?« Helga Glowaczki schiebt den Oberkörper ihres Mannes nach vorne, sodass der fast mit
dem Kinn den Vordersitz berührt. So hat Helga freien Blick auf den Doktor, der höflich, aber knapp erwidert:
»Nein, im Flieger esse ich für gewöhnlich nicht so üppig!« Jedenfalls nichts, das auch den Hunden vorgesetzt werden könnte.
»Aber das Krossong ist sehr lecker, probieren Sie mal!«
Helga reicht es an ihrem Sohn vorbei, der sich wie ein leerer Sack in seinen Sitz presst und sich längst wieder hinter Ohrstöpseln
versenkt hat, dabei vernehmlich kaut wie etwas, das Nahrung normalerweise in einem Stall zu sich nimmt. Auch das Mädchen neben
ihm hat ihr Frühstück so schnell hinuntergeschlungen, als würde jemand mit der Stoppuhr neben ihr stehen. Helga wedelt derweil
weiterhin mit ihrem Croissant in der Luft. Es regnet Marmeladenspritzer. Dr. Megrette wehrt ab, schon latent genervt.
»Nein,
wirklich
nicht, vielen Dank!«
|97| Ostentativ blättert er im Magazin der Fluggesellschaft. Die übliche Grütze aus öden Geschichten über verdiente Flugkapitäne,
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