Die Reise in die Dunkelheit
wollte schon eine Granate durch den Türspalt werfen, doch sein Bauchgefühl hielt ihn davon ab. Stattdessen schlüpfte er so leise wie möglich hinein und spähte angestrengt ins Halbdunkel des großen Raums. Sofas, Teppiche, in der Mitte ein massiver Eichenholztisch – der fürstlichen Einrichtung nach zu schließen, handelte es sich hier um die Residenz des Klanchefs.
Erst jetzt bemerkte der Stalker, dass an dem Tisch jemand saß. Mit dem Rücken zur Tür. Die hohe Stuhllehne verdeckte den Blick auf den Unbekannten. Taran schlich sich seitlich heran und sah zu seiner Überraschung, dass der Kopf des Mannes auf der Tischplatte ruhte. Der Typ schlief den Schlaf der Gerechten und stank nebenbei nach Alkohol. Vor ihm stand eine ganze Batterie leerer Flaschen – in Reih und Glied wie auf dem Exerzierplatz.
Der Lauf des »Luchses« presste sich an den Hinterkopf des langhaarigen Säufers. Der schüttelte sich kurz, als er aufwachte, doch in Anbetracht der Situation verhielt er sich bemerkenswert gleichmütig.
»Worauf wartest du? Schieß, wenn du schon da bist. Geh mir nicht auf den Sack.«
Die Stimme des Unbekannten klang grob, versoffen und … unnatürlich. Der rüde Umgangston passte nicht zu diesem merkwürdigen Zeitgenossen – trotz seines ungepflegten Äußeren. Der Söldner spürte intuitiv, dass dieser lasche Typ der Rolle des Anführers nicht gewachsen war . A ußerdem benahm er sich irgendwie unpassend . A ls hätte er es nicht mit einem grimmigen Feind zu tun, sondern mit einem Kind, das mit einer Wasserpistole herumfuchtelt.
Die Reaktion des Unbekannten hatte Taran so aus dem Konzept gebracht, dass ihm nichts Besseres einfiel, als zu fragen: »Wer bist du?«
»Heide.«
»Das sehe ich.«
»Nein. Siehst du nicht. Ich bin nicht irgendein Heide, wie die anderen …«, winkte der Mann ab und wandte sich seinem Gesprächspartner zu. Verfaulte Zähne, bläuliche Tränensäcke unter den geröteten Säuferaugen, grau durchsetztes, ungepflegtes Haar – ein schauderhafter Anblick. »Ich bin der Heide. Der, mit dem alles angefangen hat. Heide ist mein Spitzname! Kapiert?«
»Dann bist du also doch der Anführer des Klans?«
Der Trunkenbold seufzte. Er griff nach einer angebrochenen Flasche und ließ sich geräuschvoll den Fusel in die Kehle laufen. Dann rülpste er und wischte sich den Mund mit dem Ärmel seines fettigen Sweatshirts ab.
»Wir waren zu dritt. Drei Brüder. Genau wie imMärchen. Der Älteste ein heller Kopf, der Zweite leidlich talentiert, der Jüngste gar ein dummer Tropf. Ich war der leidlich Talentierte. Da wir Hunger litten, blieb uns nichts anderes übrig, als zu klauen . A nfangs hielten wir uns mit Taschendiebstählen über Wasser. Dann haben wir es mal mit Raubüberfällen probiert und sind auf den Geschmack gekommen. So haben wir uns ganz gut eingerichtet. Einmal hab ich einem Pfaffen sein Kruzifix abgenommen. Da hat er mich einen Heiden genannt. Meinen Brüdern hat das gefallen, und so ist der Name des Klans entstanden. Hast du’s jetzt geschnallt?« Der Heide grinste und flößte sich eine weitere Dosis Selbstgebrannten ein. »Aber das ist noch nicht alles. Nicht umsonst war mein älterer Bruder der Cleverste von uns. Er wurde der Chef der Bande. Und er hat auch als Erster einen umgebracht – einen Junkie. Das war der Sündenfall. Von da an lief alles aus dem Ruder . A uf mich hat er nicht gehört und mit seinen Komplizen einen Exzess nach dem anderen geliefert. Dafür hat er dann auch bezahlt. Die Admiralzen haben ihn erwischt und auf der Folterbank gestreckt, bis er hinüber war. Seither hat die Bande einen neuen Boss. Vielleicht hast du ihn gesehen. So ein fetter Bulle mit nacktem Wanst.«
»Ja, den hab ich gesehen«, bestätigte Taran. Er hatte noch vor Augen, wie der Koloss aus der Tür geschossen kam. »Dein Boss hat sich ins Jenseits verabschiedet. Seine Leute übrigens auch.«
»Alle?« Der Bandit machte ein verblüfftes Gesicht. »Du bist ja eine richtige Kampfmaschine.«
Das klang nicht nach Bedauern. Er schien eher beeindruckt von der Schlagkraft des Stalkers.
»Mich hat er immer in Ruhe gelassen«, fuhr der Heide fort. »Ich war hier so was wie der Doktor vom Dienst. Wenn die Jungs mit Schuss- oder Schnittwunden kamen, hab ich sie wieder zusammengeflickt. Eine leichte Übung für mich . A n den Abenden habe ich dem Boss Geschichten erzählt. Über das frühere Leben, über fremde Städte und über die hübschen Krankenschwestern, die bei uns im Krankenhaus
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