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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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Kantemirows Instruktionen anhörte, redete er sich ein, dass er das Richtige tat. Das Täuschungsmanöver ging ihm gegen den Strich. Doch die Möglichkeit, das Mädchen zu befreien und vor allem Taran endlich eine wirksame Medizin zu bringen, war es allemal wert, sich auf die Lüge einzulassen, die Wladlen sich ausgedacht hatte. Wie nannten die Erwachsenen so etwas? Eine Notlüge.
    »Dann bist du also einverstanden?«
    Kantemirows absichtlich strenger Ton duldete keinen Widerspruch und brachte die Waage endgültig zum Kippen.
    Gleb nickte flüchtig.
    »Gib mir dein Wort, dass du tust, was wir verabredet haben.«
    Der Junge sah den Erwachsenen verlegen an, doch als er dessen bohrenden Blick bemerkte, sagte er kurz und knapp: »Ich schwör’s.«
    Wladlen schnippte übermütig mit den Fingern und klopfte seinem Gast auf die Schulter.
    »Richtig so, Junge. Und weißt du was? Aus irgendeinem Grund vertraue ich dir. Pass auf …« Der Arzt riss einen Zettel aus seinem Notizblock, wickelte das ersehnte Fläschchen schlampig darin ein und legte es in Glebs Kinderhand. »Nimm. Und lass es immer in dem Papier. Wenn Licht drankommt, könnte das Mittel seine Wirkung verlieren.«
    Der Junge nahm das Päckchen wie ein wertvolles Juwel entgegen und steckte es vorsichtig in die Innentasche seines Anzugs. Der Arzt hatte damit seinen Teil der Abmachung erfüllt. Nun war es an Gleb, das Seine zu tun. Sein Wort musste man halten. Das hatte ihm Taran eingebläut.
    Mit einem dumpfen Poltern wurde der Riegel zurückgeschoben. Die eisenbeschlagene Tür öffnete sich und ließ eine grelle Lichtsäule in den finsteren Raum. Durch den Türrahmen huschte ein schwarzer Schatten, und der nächste Gefangene plumpste auf den feuchten Zellenboden. Jämmerlich quietschend fiel die massive Tür wieder ins Schloss, und der Raum versank neuerlich in Dunkelheit.
    Gleb blinzelte angestrengt, doch er konnte nichts erkennen. Erst einige Zeit später bemerkte er direkt unter der Decke ein vergittertes Fenster, durch das ein fahler Lichtschein drang. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurden die Umrisse der spartanischen Einrichtung sichtbar: eine an die Wand montierte Pritsche und die Trennwand des Aborts in der Ecke. Zuletzt tauchte die Silhouette der Gefangenen auf, die auf dem Boden kauerte und die Arme um die Knie geschlungen hatte.
    Der Junge ließ sich an der gegenüberliegenden Wand nieder und schwieg. Er konnte das Gesicht der Unbekannten nicht erkennen. Das machte es schwierig, ein Gespräch zu beginnen. Das Problem löste sich von selbst, als jemand Schüsseln mit Suppe durch das Türfenster schob. Zu den Mahlzeiten wurde das Licht eingeschaltet.
    Endlich konnte Gleb seine Zellengenossin sehen. Jetzt verstand er, wovon Wladlen gesprochen hatte. Das Mädchen sah aus wie das blühende Leben und überhaupt nicht wie ein Kind der Metro. Trotz des etwas chaotischen, kurzen Schnitts wirkte ihr Haar gepflegt und sauber. Ihre rosige Haut hatte nichts von der Leichenblässe der Bewohner des Untergrunds, die niemals in die Sonne kamen.
    Dem Jungen fiel ein, dass ihn Taran regelmäßig mit irgendwelchen Tabletten vollstopfte, mit dem Hinweis, er müsse seinen – wie hieß das? – Vitamin-D-Mangel ausgleichen. In der geheimen Stadt, so es sie denn gab, wuchsen die Vitamine offenbar auf den Bäumen.
    Im Übrigen war seine Mitgefangene ein völlig normales Mädchen und höchstens ein oder zwei Jahre älter als er. Sie hatte ebenmäßige Züge und ausdrucksvolle graue Augen. Die etwas nach oben gebogene Nasenspitze und Grübchen in den Wangen verliehen ihrem Gesicht einen kessen Ausdruck. Über den viel zu großen Overall musste der Junge schmunzeln.
    Die Unbekannte musterte Gleb nicht weniger aufmerksam – mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn. Selbst als sie nach ihrer Schüssel griff, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Der Geruch der Mahlzeit schien ihr überhaupt nicht zu behagen . A ngewidert rümpfte sie die Nase und schob die Brühe beiseite.
    Der Junge erwies sich als weniger wählerisch. Unbeirrt taucht er den Alulöffel in seine Schüssel und begann schmatzend zu essen.
    »Pilzsuppe«, erklärte er, als er bemerkte, dass das Mädchen ihn skeptisch beobachtete. »Lecker. Probier mal.«
    Doch sie prustete nur abschätzig und wandte sich ab.
    Als Gleb mit seiner Portion fertig war, kam ihm eine Idee. Obwohl er pappsatt war, streckte er die Hand nach der Schale des Mädchens aus.
    »Du magst sie ja sowieso nicht,

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