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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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es mir. Ich bin in diesen dreißig Jahren weder weniger einsam geworden, noch bin ich verroht, ganz im Gegenteil. Aber oberflächlich betrachtet — ja ... Doch jetzt heißt es endlich — leben! Und es ist ganz und gar nicht langweilig zu leben! Langweilig war das Leben nur für Nikolaj Gogol und König Salomon. Wenn man schon dreißig Jahre gelebt hat, dann muß man versuchen, noch weitere dreißig zu leben. Jawohl! »Der Mensch ist sterblich« — das ist meine Meinung. Aber wenn wir nun mal geboren wurden — was bleibt da übrig? Ein Weilchen müssen wir schon leben ... »Das Leben ist schön« — das ist meine Meinung (und die Majakowskijs).
    Wißt ihr denn, wie viele Geheimnisse es noch auf der Welt gibt, welche Abgründe an Unerforschtem? Und welche Freiheiten dem beschert sind, der sich von diesen Geheimnissen angezogen fühlt? Ein ganz einfaches Beispiel: Woher kommt es, daß wenn du gestern, sagen wir, siebenhundertfünfzig Gramm getrunken hast und am nächsten Morgen nicht die Möglichkeit hattest, deinen Brand zu löschen (wegen Dienst und dergleichen), und erst am späten Nachmittag, nachdem du dich sechs oder sieben Stunden lang abgerackert hast, endlich dazu kommst, was zu trinken, um die Seele zu erleichtern (nun, wieviel trinkst du?, na, sagen wir, hundertfünfzig Gramm) — woher kommt es, daß dir davon nicht leichter wird? Die Benommenheit, die dich seit dem Morgen nicht verlassen hat, geht in eine Benommenheit anderer Art über, du wirst verlegen in deiner Benommenheit, deine Wangen werden hochrot wie die einer Nutte, und unter den Auen hast du blaue Ringe, als hättest du am Vorabend nicht deine siebenhundertfünfzig Gramm gehabt, sondern eine Tracht Prügel in die Fresse. Warum? Ich kann euch sagen, warum. Weil dieser Mensch das Opfer seiner sechs oder sieben Arbeitsstunden wurde. Man muß eben die richtige Arbeit für sich auswählen können, schlechte Arbeit gibt es nicht. Es gibt keine dummen Berufe, man muß jedermanns Berufung achten. Man muß morgens, gleich wenn man aufwacht, irgendwas trinken, nein, falsch, nicht »irgendwas«, sondern genau das, was man am Vorabend getrunken hat. Man muß mit Pausen von vierzig oder fünfundvierzig Minuten trinken, und zwar soviel, daß man am Abend zweihundertfünfzig Gramm mehr intus hat als am Vorabend. Auf diese Weise wird man weder Benommenheit, noch Verlegenheit verspüren und im Gesicht so weiß sein, als hätte man schon ein halbes Jahr lang keine Schläge mehr in die Fresse gekriegt.
    Seht ihr, so viele Rätsel birgt die Natur, verhängnisvolle und beglückende. Die Welt ist voller weißer Flecken. Und diese hohlköpfige Jugend, die uns ablösen will, scheint gar nicht zu bemerken, welche Geheimnisse das eben birgt. Ihr fehlen Elan und Initiative. Und ich bezweifle, daß sie überhaupt irgendwas im Kopf haben. Was könnte zum Beispiel edler sein, als an sich selbst zu experimentieren? Als ich in deren Alter war, pflegte ich es so zu machen: am Donnerstagabend trank ich in einem Zug dreieinhalb Liter Wodka mit Bier aus und ging schlafen, ohne mich auszuziehen. Ich hatte dabei nur einen einzigen Gedanken: Werde ich am Freitagmorgen aufwachen oder nicht?
    Aber am Freitagmorgen wachte ich eigentlich nie auf, sondern am Samstagmorgen, und zwar nicht in Moskau, sondern unter dem Eisenbahndamm in der Gegend von Naro-Fominsk. Da begann ich mich dann angestrengt auf die Fakten zu besinnen, sie zu sammeln und aneinanderzureihen. Danach fing ich erneut an, sie mir ins Gedächtnis zu rufen, höchst angestrengt und durchdringend analytisch. Und dann ging ich von der Betrachtung zur Abstraktion über. Mit anderen Worten, ich dachte nach, kam langsam wieder zu mir und konstatierte schließlich, wo der Freitag geblieben war.
    Schon von klein auf, als ich noch nicht mal über den Tisch sehen konnte, war mein Lieblingswort »Wagemut«, und — Gott ist mein Zeuge — was habe ich nicht alles gewagt! Wenn ihr auch nur ein einziges Mal das wagen würdet, was ich in eurem Alter gewagt habe, würdet ihr auf der Stelle einen Herzkollaps kriegen oder an der Schwindsucht eingehen. Oder nein, ihr würdet eines schönen Morgens ganz einfach nicht mehr aufwachen. Aber ich wachte auf, fast jeden Morgen und wagte es wieder ...
    Zum Beispiel so: Mit achtzehn ungefähr stellte ich fest, daß ich von der ersten Dosis an bis einschließlich der fünften an Männlichkeit zunahm, und zwar unaufhaltsam, aber angefangen von der sechsten

Kupawna — Kilometer 33
    bis

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