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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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werde ohne dich auskommen! Ein paar Wochen werde ich mich rumtreiben, und dann werfe ich mich unter den Zug. Und anschließend geh ich ins Kloster und nehme den Schleier. Du wirst kommen, um mich um Verzeihung zu bitten, und ich werde durch die Tür treten, ganz in Schwarz, schön und anmutig, und dir mit meinen eigenen Krallen die Fresse zerkratzen. Geh!‹ Dann brüllte ich wieder: »Liebst du wenigstens meine Seele? Liebst du sie, meine Seele?‹ Er wurde immer wütender und zitterte: ›Mit dem Herzen‹, brüllte er, ›ja, mit dem Herzen liebe ich deine Seele, aber mit der Seele, nein, mit der nicht! !‹
    Er lachte auf, irgendwie tierisch, wie in einer Oper, packte mich, brach mir den Schädel und verschwand nach Wladimir an der Kljasma.
    Warum verschwand er? Zu wem? Ganz Europa teilte mein Befremden. Meine taubstumme Großmutter saß auf dem Ofen und sagte: »Siehst du, Daschenka, so weit ist es mit dir gekommen auf der Suche nach deinem Ich!‹
    Ja. Nach einem Monat kam er zurück. Ich war an dem Tag sternhagelbesoffen. Als ich ihn sah, fiel ich vornüber auf den Tisch, brach in Gelächter aus und strampelte mit den Beinen: ›Aha‹; schrie ich, ›du glaubst, du kannst nach Wladimir an der Kljasma abhauen, und wer soll für dich die Kinder...‹ Er kam wortlos auf mich zu, schlug mir vier Vorderzähne aus und verschwand nach Rostow am Don im Auftrag des Komsomol... Gleich kipp ich um, Kleiner, gib mir noch einen Tropfen ...«
    Alle bogen sich vor Lachen. Die taubstumme Großmutter hatte ihnen den Rest gegeben.
    »Wo ist er denn jetzt, dein Jewtjuschkin?«
    »Was weiß ich, wo der ist. Entweder in Sibirien oder in Mittelasien. Wenn er in Rostow angekommen ist und noch lebt, dann ist er jetzt irgendwo in Mittelasien. Aber wenn er nicht bis nach Rostow gekommen und gestorben ist, dann ist er jetzt in Sibirien
    »Ganz richtig«, unterstützte ich sie, »in Mittelasien stirbt man nicht, in Mittelasien läßt sich's leben. Selbst war ich zwar noch nie dort, aber mein Freund Tichonow. Er berichtete: du gehst und gehst, und auf einmal ein Dorf — ein Kischlak. Die Öfen werden mit getrocknetem Mist geheizt. Zu saufen gibt es nichts, aber dafür zu fressen jede Menge: Akyne und Saksaule ... Davon hat er sich dort fast ein halbes Jahr ernährt, von diesen Akynen und Saksaulen. Schlecht kann es nicht gewesen sein. Er kam geschwächt zurück, mit vorstehenden Augen ...« »Und in Sibirien ...?«
    »Nein, in Sibirien kann man nicht leben. In Sibirien lebt überhaupt keiner, nur Neger. Man bringt ihnen dort keine Lebensmittel hin, zu trinken gibt es auch nichts, geschweige denn was zu essen. Lediglich einmal im Jahr schickt man ihnen aus Shitomir bestickte Handtücher, an denen sich die Neger dann aufhängen »Was denn für Neger?« Der Dekabrist, der inzwischen eingenickt war, wurde wieder lebendig. »Was denn für Neger in Sibirien? Die Neger leben in den Staaten und nicht in Sibirien! Angenommen, Sie waren schon in Sibirien, aber waren Sie auch schon in den Staaten?«
    »Ja, war ich! Und ich habe dort keinen einzigen Neger gesehen!«
    »Keinen einzigen Neger? In den Staaten?«
    »Jawohl, in den Staaten! Nicht einen Neger!«
    Alle waren inzwischen so benebelt im Kopf, daß sie sich über nichts mehr wundern konnten. Die tragische Frauengestalt mit Schramme und ohne Zähne hatten sie längst vergessen. Sie selbst schien sich vergessen zu haben und alle andern sich auch. Nur der junge Mitritsch war eifrig dabei, in der Gegend herumzugeifern, um sich in Gegenwart einer Dame zu zeigen.
    »Sie waren also in den Staaten«, lallte der Schnurrbärtige, »das ist äußerst interessant! Daß es da keine Neger gibt und nie welche gegeben hat, das halte ich für möglich ... Ich glaube Ihnen, wie meiner eigenen Mutter ... Aber sagen Sie eins: gibt es dort auch keine Freiheit? Ist die Freiheit eine Utopie geblieben auf diesem Kontinent des Leids?«
    »Ja«, antwortete ich ihm, »die Freiheit ist eine Utopie geblieben auf diesem Kontinent des Leids. Und die Leute haben sich dort so daran gewöhnt, daß sie es fast nicht mehr merken. Denken Sie nur! Ich bin lange durch die Straßen gelaufen und habe sie beobachtet. In keinem der Gesichter, in keiner Geste, in keiner Replik läßt sich bei ihnen auch nur die geringste Ungeschliffenheit erkennen, an die wir hier so gewöhnt sind. In jeder Visage drückt sich in einer Minute so viel Würde aus, daß es uns für die ganze Zeit unseres ruhmreichen Siebenjahresplanes reichen würde.

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