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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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Finger?« stöhnte der Dekabrist.
    »Nein, nein, hör zu. Könntest du dich nachts ins Parteibüro schleichen, die Hosen ausziehen und ein ganzes
    Glas Tinte austrinken; dann das Glas wieder an seinen alten Platz stellen, die Hosen wieder anziehen und dich leise nach Hause schleichen? Für die geliebte Frau? Könntest du das?«
    »Mein Gott! Nein, das könnte ich nicht.«
    »Na, siehst du ...«
    »Aber ich könnte es!« meldete sich plötzlich der alte Mitritsch zu Wort. So unerwartet, daß alle anfingen, auf dem Hintern herumzurutschen und sich unruhig die Hände zu reiben. »Ich könnte auch was erzählen ...« »Du? Was erzählen? Du hast doch Iwan Turgenjew garantiert nicht gelesen.«
    »Und wenn schon. Dafür hat mein Enkel alles gelesen ...«
    »Schon gut, schon gut! Der Enkel kann später was erzählen. Dem Enkel geben wir nachher das Wort. Komm Opa, schieß los, erzähl uns was über die Liebe.«
    Man kann sich vorstellen, was da für ein Blödsinn rauskommen wird, dachte ich, was für ein haarsträubender Blödsinn! Und plötzlich fiel mir ein, wie ich vor meiner Königin geprahlt hatte am Tag unseres Kennenlernens: »Ich kann noch mehr haarsträubendes Zeug unterbringen. Immer höher, immer weiter!« Nun, sollte er erzählen, dieser tränende Mitritsch. Ich wiederhole: man muß die geheimen Winkel der menschlichen Seele achten, man muß in sie hineinsehen, auch wenn es nichts zu sehen gibt, wenn da nichts anderes ist als Scheiße, trotzdem: sieh hin und achte, was du siehst, sieh hin, ohne auszuspucken...
    Der Opa begann zu erzählen:

Kilometer 65 — Pawlowo-Possad
    »Wir hatten einen Vorsitzenden... Lohengrin nannten sie ihn. Ein so strenger Charakter... und überall voller Furunkel. Jeden Abend fuhr er mit dem Motorboot hinaus. Setzt sich ins Boot und fährt auf dem Fluß dahin ... fährt und drückt sich die Furunkel aus.«
    Aus den Augen des Erzählers tropfte das Wasser. Er schien tief bewegt.
    »Und wenn er dann genug Boot gefahren war, kam er ins Büro und legte sich auf den Boden... Da wurde er dann ganz unzugänglich — schwieg und schwieg. Und wenn ihm einer ein verkehrtes Wort sagte, verzog er sich in eine Ecke und begann zu weinen. Stand da und weinte und pißte auf den Boden, wie ein kleines Kind ...«
    Der Opa verstummte plötzlich. Sein Mund verzog sich, seine blaue Nase leuchtete auf und verlosch. Er weinte! Er weinte wie eine Frau, hielt sich die Hände vors Gesicht, und seine Schultern bebten, bebten und wogten wie Wellen...
    »Nun, Mitritsch, das war's wohl...?«
    Das ganze. Abteil bebte vor Lachen. Alle lachten, unanständig und vergnügt. Und der Enkel fing an zu zucken, von oben nach unten und von links nach rechts, um sich vor Lachen nicht in die Hose zu machen. Der Schnurrbärtige war verärgert:
    »Wo bleibt denn da Turgenjew? Wir haben doch ausgemacht: wie bei Iwan Turgenjew. Aber das da... der Teufel weiß, was das soll. Einer mit lauter Furunkeln, und pissen tut er auch noch.«
    »Der hat das wahrscheinlich aus einem Film«, brummte jemand von der Seite, »aus dem Film ›Der Vorsitzende‹!« »Das und ein Film. Zum Teufel mit ihm!«
    Aber ich verstand den alten Mitritsch, ich verstand seine Tränen. Ihm tat einfach jeder und jedes leid: der Vorsitzende, dem man einen so schmählichen Spitznamen gegeben hatte, die Wand, die er anpinkelte, das Boot und die Furunkel — alles tat ihm leid. Erste Liebe oder letztes Mitleid — wo ist da der Unterschied? Christus predigte uns Mitleid, als er am Kreuze starb, von Spott hat er nichts gesagt.
    Das Mitleid und die Liebe zu dieser Welt sind unteilbar. Die Liebe zu allem Irdischen, zu jeglichem Leib. Und das Mitleid für die Frucht eines jeden Leibes.
    »Komm, Opa«, sagte ich, »komm, ich lade dich ein. Du hast es verdient! Du hast uns so schön erzählt von der Liebe...«
    »Laßt uns alle trinken! Auf Iwan Turgenjew, den Edelmann von Orjol und Bürger des schönen Frankreich!« »Jawohl! Auf den Edelmann von Orjol!«
    Es begann wieder jenes Gluckern und Schlürfen, und dann wieder jenes Schmatzen und Raunen. Der Pianist spielte eine Zugabe auf die Etude in cis-Moll von Franz Liszt.
    Zuerst bemerkte keiner, daß sich am Eingang zu unserem Coupe (nennen wir es »Coupe«) eine Frauengestalt aufgebaut hatte. Sie trug eine braune Baskenmütze, ein Jakkett und hatte einen kleinen schwarzen Schnurrbart. Sie war von oben bis unten besoffen, und die Baskenmütze hing ihr schief auf dem Kopf.
    »Ich will auch Turgenjew und was zu trinken«,

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