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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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»Mozart und Salieri«: »Doch auch höher ist die Wahrheit nicht.« Eine neckische und zweideutige Parole war das, doch wir hatten andere Sorgen. Es war kurz vor neun Uhr und null Minuten nach Greenwich-Zeit.
    Womit hatte das alles begonnen? Alles hatte damit begonnen, daß Tichonow an das Tor des Landwirtschaftssowjets von Jelissejkowo seine vierzehn Thesen angeschlagen hatte. Genauer, er hat sie nicht ans Tor angeschlagen, sondern mit Kreide an den Zaun geschrieben. Eigentlich waren das auch keine Thesen, sondern Wörter, eindeutige und lapidare Wörter, und es waren auch keine vierzehn, sondern nur zwei. Aber wie dem auch sei, damit hatte alles begonnen.
    Wir teilten uns in zwei Marschblöcke auf, bewaffneten uns mit Standarten und gingen los. Die einen nach Jelissejkowo, die andern nach Gartino. Wir marschierten unerschrocken bis zum Sonnenuntergang. Tote waren nicht zu beklagen, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Es gab auch keine Verletzten und nur einen Gefangenen: den früheren Vorsitzenden des Landwirtschaftssowjets von Lorionowo, der in der Neige seines Lebens der Trunksucht und des angeborenen Schwachsinns beschuldigt wurde. Jelissejkowo wurde eingenommen. Tscherkassowo lag vor uns auf den Knien, Neugodowo und Pekscha flehten um Gnade. Sämtliche lebenswichtigen Zentren im Landkreis von Petuschki — angefangen vom Geschäft in Polomy bis zum Lager des Kaufhauses in Andrejewskoje — waren durch die Kraft der Aufständischen eingenommen.
    Nach Sonnenuntergang wurde das Dorf Tscherkassowo zur Hauptstadt ausgerufen. Der Gefangene wurde dorthin befördert und am gleichen Ort ein improvisierter Siegerkongreß einberufen. Die Redner waren stockbesoffen und faselten alle dasselbe: Maximilien Robespierre, Oliver Cromwell, Sofia Perowskaja, Vera Sassulitsch, die Strafkommandos von Petuschki, der Krieg mit Norwegen und wieder Vera Perowskaja und Sofia Sassulitsch ...
    Da riefen welche: »Wo soll denn dieses Norwegen liegen?« »Das weiß der Teufel!« antworteten andere. »Am Arsch der Welt, wo sich die Füchse gute Nacht sagen!« »Wo immer es liegen mag«, versuchte ich die lärmende Menge zu beruhigen, »um eine Intervention kommen wir nicht herum. Um die durch den Krieg zerstörte Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, muß man sie erst zerstören, und dafür braucht man einen Bürgerkrieg oder irgendeinen anderen mit mindestens zwölf Fronten ...« »Was wir brauchen, ist die Weiße Armee aus Polen!« schrie Tichonow, der kaum noch aufrecht auf den Beinen stehen konnte. »Du Idiot«, unterbrach ich ihn, »du mußt doch immer danebenhauen! Du bist ein glänzender Theoretiker, Wadim, deine Thesen haben wir uns ins Herz geschrieben, aber sobald es an die praktische Arbeit geht, baust du nur noch Scheiße. Was hast du denn von der Weißen Armee, du Trottel?...« »Hab ich etwa darauf bestanden?« lenkte Tichonow ein. »Als ob ich mehr davon hätte als ihr! Wenn ihr meint, dann nehmen wir Norwegen...«
    In der Eile und Aufregung hatten alle vergessen, daß Norwegen schon seit zwanzig Jahren Mitglied der NATO ist, doch Wladik Z-skij war bereits mit einem Bündel Postkarten und Briefe auf dem Weg zum Postamt von Lorionowo. Ein Brief war an König Olaf von Norwegen adressiert und enthielt die Kriegserklärung mit Empfangsbestätigung. Ein zweiter Brief, genauer kein Brief, sondern ein weißes Blatt Papier im Kuvert, wurde an General Franco geschickt. Sollte er darin den warnenden Finger Gottes erblicken, dieser verknöcherte Knickstiefel. Sollte er so weiß werden wie jenes Blatt Papier, dieser abgetakelte, ausgef... Caudillo. Von Harold Wilson, dem Premier des Britischen Imperiums, verlangten wir nur eine Kleinigkeit: Laß dein blödes Kanonenboot aus dem Golf von Akaba verschwinden, Premier, forderten wir, ansonsten kannst du nach Gutdünken vorgehen. Der vierte Brief schließlich ging an Wladislaw Gomulka. Wir schrieben ihm: Du, Wladislaw, hast das volle und unantastbare Recht auf den Polnischen Korridor. Aber dieser Josef Cyrankiewicz, der hat überhaupt kein Recht darauf. Ferner verschickten wir vier Postkarten: an Abba Eban, Moshe Dayan, General Suharto und Alexander Dubcek. Alle vier Postkarten waren sehr schön, mit Vignetten und Eicheln verziert. Warum sollte man den Jungs nicht auch mal eine Freude machen? Vielleicht, dachten wir, erkennen uns diese Großmäuler dafür als Träger des internationalen Rechts an ...
    Keiner schlief in dieser Nacht. Alle waren von Enthusiasmus erfüllt, sahen in

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