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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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den aussteigenden das Maul stopften. Ich wurde hin- und hergeschleudert, wie ein Stück Scheiße im Abfluß.
    Und wenn der Herr mich eines Tages dort fragen wird: »Ist es denn möglich, Wenja, daß du dich an nichts mehr erinnern kannst? Ist es denn möglich, daß du sogleich in jenen Schlaf verfallen bist, mit dem dein ganzes Unglück begonnen hat ...?« Dann werde ich ihm antworten: »Nein, Herr, nicht sogleich ...« Mit einem Zipfel meines Bewußtseins, mit jenem winzigen Zipfel, erinnere ich mich daran, daß es mir endlich gelang, Herr über das Inferno zu werden und mich in den leeren Raum des Wagens zu retten, um auf irgend jemandes Sitzbank zu fallen, die erste von der Tür ...
    Und als ich gefallen war, Herr, gab ich mich sogleich dem gewaltigen Strom der Phantasien und trägen Schläfrigkeit hin - doch nein! Ich lüge schon wieder! Ich lüge schon wieder vor Deinem Angesicht, Herr! Aber nicht ich lüge, es lügt mein geschwächtes Gedächtnis. Ich habe mich dem Strom nicht sogleich hingegeben, sondern erfühlte in meiner Tasche eine unversehrte Flasche Kubanskaja und nahm fünf oder sechs Schluck. Erst dann ließ ich die Ruder sinken und gab mich dem gewaltigen Strom der Phantasien und trägen Schläfrigkeit hin. ..
    »Eure ganzen Erfindungen vom goldenen Zeitalter«, wie-derholte ich immer wieder, »sind verzweifelte Lügen. Doch mir ist sein Urbild vor zwölf Wochen erschienen, und in einer halben Stunde wird sein Glanz zum dreizehntenmal für mich aufblitzen. Dort verstummt der Vogelsang nicht bei Tage und nicht bei Nacht, dort verblüht der Jasmin nicht sommers und winters. Was ist das dort, im Jasmin? Wer ist das, eingehüllt in Samt und Seide, mit gesenkten Wimpern, den Duft der Lilien einatmend ...?« Ich grinse wie ein Idiot und schiebe die Jasminzweige auseinander ...
Orechowo-Sujewo — Krutoje
    ... und durch die Jasminzweige tritt Tichonow, verschlafen und blinzelnd, geblendet von mir und der Sonne. »Was treibst du hier, Tichonow?«
    »Ich schreibe an den Thesen. Alles ist längst bereit für die Kundgebung, nur die Thesen nicht. Aber nun sind auch die soweit...«
    »Du meinst also, daß die Stunde reif ist?«
    »Was weiß ich! Sobald ich bißchen was getrunken habe, scheint mir, daß sie reif ist. Doch kaum läßt der Rausch nach, denke ich, nein, sie ist noch nicht reif, es ist noch zu früh, zum Gewehr zu greifen ...«
    »Trink ein Glas Wacholderschnaps, Wadja Tichonow trank ein Glas Wacholderschnaps, rülpste und ließ traurig den Kopf hängen.
    »Nun? Ist die Stunde reif?«
    »Wart's ab, gleich wird sie reif sein.«
    »Wann sollen wir denn die Kundgebung machen? Morgen?«
    »Was weiß ich! Sobald ich bißchen was getrunken habe, scheint mir, daß wir sie schon heute machen könnten und daß es auch gestern nicht zu früh gewesen wäre. Doch kaum läßt der Rausch nach, denke ich, nein, gestern wäre es zu früh gewesen, und übermorgen ist es auch noch nicht zu spät.«
    »Trink doch noch ein Glas, Wadimtschik, trink noch ein Glas vom Wacholderschnaps.«
    Wadimtschik trank und wurde noch trauriger.
    »Nun, was meinst du? Ist es soweit?...«
    »Es ist soweit!«
    »Vergiß die Parole nicht. Und sag den andern, daß sie daran denken sollen: morgen früh zwischen den Dörfern Gartino und Jelissejkowo, am Viehhof um neun Uhr und null Minuten nach Greenwich-Zeit...«
    »Ja, um neun Uhr und null Minuten nach Greenwich- Zeit.«
    »Auf Wiedersehen, Genosse. Versuch zu schlafen heute nacht
    »Ich werd's versuchen. Auf Wiedersehen, Genosse.«
    An dieser Stelle muß ich unbedingt eine Einschränkung machen und im Angesicht des Gewissens der ganzen Menschheit etwas klarstellen: Ich war von Anfang an gegen dieses Abenteuer, das so unfruchtbar ist wie ein Feigenbaum. (Sehr schön gesagt: »unfruchtbar wie ein Feigenbaum«.) Ich war von Anfang an der Meinung, daß die Revolution nur dann einen Sinn hat, wenn sie sich in den Herzen vollzieht und nicht auf den Straßen. Doch nun haben sie mal ohne mich damit angefangen — und ich kann nicht abseits von denen stehen, die angefangen haben. Ich muß wenigstens versuchen, die unnütze Verhärtung der Herzen zu verhindern und das Blutvergießen zu mindern ...
    Um neun Uhr nach Greenwich-Zeit saßen wir im Gras am Viehhof und warteten. Jedem, der vorüberging, riefen wir zu: »Setz dich zu uns, Genosse! Stehen macht nicht klüger! Nicht in den Füßen ist die Wahrheit!« Jeder blieb stehen, klapperte mit seinem Gewehr und wiederholte das Zitat aus Puschkins

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