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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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Büchse da auf und fragt sie, was sie schuldig ist. Und du, Covercoat, woher und wohin? Hammer-und-Sichel — Pokrow? Hundertfünf, wenn ich bitten darf. Die › Schwarzfahrer ‹ werden immer weniger. Vor einiger Zeit noch hat das Wut und Entrüstung ausgelöst, aber jetzt ruft es legitimen Stolz hervor. Und du, Wenja?...«
    Semjonytsch richtete seinen blutrünstigen Blick auf mich und tauchte mich in seine heiße Alkoholfahne.
    »Und du, Wenja? Wie immer, Moskau — Petuschki...?«

Kilometer 85 — Orechowo-Sujewo
    »Ja, wie immer. Und diesmal für ewig: Moskau — Petuschki ...«
    »Du glaubst wahrscheinlich, Scheherezade, daß du mir auch diesmal wieder entwischen kannst! Was?«
    An dieser Stelle muß ich ganz kurz abschweifen, und während Semjonytsch die ihm zustehende Strafdosis trinkt, erkläre ich euch schnell, warum er von »Scheherezade« und »entwischen« spricht.
    Es ist schon drei Jahre her, seit ich mit Semjonytsch zum erstenmal zusammengestoßen bin. Damals hatte er gerade erst diese Stelle angetreten. Er kam auf mich zu und fragte: »Moskau — Petuschki? Hundertfünfundzwanzig.« Als ich nicht begriff, worum es ging, erklärte er es mir. Und als ich ihm sagte, daß ich keinen einzigen Tropfen bei mir hätte, antwortete er: »Was soll ich denn mit dir machen? Soll ich dir eins in die Fresse schlagen dafür, daß du keinen einzigen Tropfen bei dir hast?« Ich erwiderte, daß er mich nicht schlagen solle, und murmelte irgendwas aus dem Bereich des Römischen Rechts. Dafür bekundete er starkes Interesse und bat mich, mehr über alles Antike und Römische zu erzählen. Ich begann zu erzählen und war bereits bei der skandalösen Geschichte von Lucrezia und Tarquinius, aber da hielt der Zug in Orechowo-Sujewo, wo Semjonytsch aussteigen mußte. So war er um den Schluß der Geschichte gekommen und hatte nicht erfahren, was denn nun mit Lucrezia geschehen war: hatte Tarquinius, diese Flasche, das Seine erreicht oder nicht? Semjonytsch ist, unter uns gesagt, ein seltener Weiberheld und Schwärmer. Von der ganzen Weltgeschichte faszinierten ihn nur ihre Bettgeschichten. Als uns eine Woche später in der Gegend von Frjasewo die Kontrolleure wieder überfielen, da sagte Semjonytsch nicht mehr: »Moskau — Petuschki? Hundertfünfundzwanzig!« Nein, er stürzte sich auf mich und verlangte nach der Fortsetzung: »Wie ging's weiter? Hat er diese Lucrezia endlich doch noch gef ...?«
    Ich erzählte ihm die Fortsetzung. Ich ging von der römischen Geschichte zu der des Christentums über und war schon bei dem Zwischenfall mit Hypatia. Ich berichtete: »Angestiftet vom Patriarchen Kyrillos, rissen die von Fanatismus besessenen Mönche von Alexandria der wunderschönen Hypatia die Kleider vom Leib und...« Da blieb unser Zug wie angewurzelt stehen. Wir waren in Orechowo-Sujewo, und Semjonytsch sprang hinaus auf die Plattform, endgültig seiner Neugierde ausgeliefert... So ging es ganze drei Jahre, jede Woche. Auf der Strecke »Moskau — Petuschki« war ich der einzige Passagier ohne Fahrschein, der Semjonytsch noch nie ein Straf-Gramm gezahlt hatte und trotzdem mit dem Leben und ohne Schläge davongekommen war. Aber jede Geschichte hat einmal ein Ende und die Weltgeschichte auch... Letzten Freitag war ich bis zu Indira Gandhi, Moshe Dayan und Dubček gekommen. Weiter kann man nicht mehr gehen... Nun, Semjonytsch hatte seine Strafdosis ausgetrunken, rülpste und fixierte mich wie eine Boa oder Sultan Schehriyar.
    »Moskau — Petuschki? Hundertfünfundzwanzig!« »Semjonytsch«, sagte ich, fast flehend, »Semjonytsch, hast du heute viel getrunken?«
    »Ganz schön«, antwortete Semjonytsch, nicht ohne Stolz. Er war sternhagelbesoffen.
    »Heißt das, daß du voller Phantasie bist? Heißt das, daß du deinen Blick in die Zukunft richten kannst? Heißt das, daß du dich mit mir zusammen aus der dunklen Vergangenheit in das goldene Zeitalter versetzen kannst, ›ja, ja, es ist nah‹?«
    »Kann ich, Wenja, kann ich! Heute kann ich alles! »Kannst du vom Dritten Reich, vom Vierten Rückenwirbel, von der Fünften Republik und dem Siebzehnten Parteitag mit mir zusammen einen Schritt tun in die Welt des von allen Juden sehnlichst erwarteten Fünften Königreichs, des Siebenten Himmels und der Zweiten Ankunft des Herrn?«
    »Kann ich«, grunzt Semjonytsch. »Schieß los, Scheherezade!«
    »Hör zu. Es wird kommen der Tag, ›der auserwählteste aller Tage‹. An diesem Tag wird der nach dem Herrn schmachtende Simeon endlich

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