Die Reise zum Ich
Der
Patient schritt auf ihn zu und verwandelte sich in ihn. Hier hörte
die Traumsequenz auf. Es schien uns ein logisches Ende. Den-
noch fehlte etwas, nämlich ein Gefühlserlebnis, das dem expliziten Inhalt dieser Schau entsprochen hätte. Und der Patient vermerkte auch später in seiner Niederschrift, daß er tatsächlich zu seiner Überraschung weder Freude noch Trauer verspürt habe.
Wie wir sehen werden, durchlief der Analysand diese Traumsequenz vier Stunden später noch einmal, diesmal mit anderem Ausklang. Der Erfolg dieses zweiten Versuchs war den Einsichten und Empfindungen zu verdanken, die eine vorangegangene Kontemplation von Familienfotos ausgelöst hatte.
Beim Betrachten von Jugendfotos seiner Eltern fiel ihm eines
besonders auf; ein Foto seiner Eltern nach mehreren gemeinsamen Ehejahren.
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»Wie haben sie sich verändert!« schrieb er später. »Aus
Mutter ist ein leidendes, gequältes Wesen geworden. Beide
scheinen in sich gekehrt, beide sehen sehr traurig aus. Vater
ist angespannt, preßt die Lippen zusammen. Seine Nase läßt
auf Heftigkeit, Dickköpfigkeit und Reizbarkeit schließen.
Was für ein Unterschied im Vergleich zu seinem leuchtenden
Blick auf dem Foto von 1910!«
Nachdem er den Ausdruck seiner Eltern beschrieben hatte, forderte ich ihn auf, sie miteinander sprechen zu lassen.
Dies fiel mir sehr schwer, da er das Gefühl hatte, seine Mutter
werde ihn rügen, weil er einem Fremden Einblick in seine Angelegenheiten
gewähre.
Dennoch
sagte
»Mutter«
schließlich:
»Ich weiß, daß es eine Konvenienzehe ist, dennoch, warum bist
du mir gegenüber so heftig? Warum schreist du so und warum
beleidigst du mich?«
»Das muß ich tun, weil ich sehr schwach bin«, sagte »Vater«.
Der Patient realisierte jetzt, wie fremd seine Eltern einander
waren und wie erstarrt. »So sahen sie unter LSD-Wirkung nicht
aus«, bemerkte er. »Sie wirken eher wie Statuen und nicht wie
menschliche Wesen.«
»Vielleicht haben Sie Ihre Eltern verherrlicht?« sagte ich.
»In diesem Augenblick«, schrieb er nachher, »war ich von jener
charakteristischen Klarheit erfüllt. Ich hatte den tiefsten Grund
erreicht. Und ich sah, daß ich meinen Eltern noch immer Denkmäler errichtete.«
Wir setzten den Dialog der Eltern fort.
Die Mutter sagte: »Warum bist du so gemein zu mir gewesen?
Kannst du mich denn nicht wenigstens ein bißchen lieben?«
Der Vater antwortete: »Ich kann keine Liebe aufbringen, da
ich mich aus deiner Welt, von deinen Freunden ausgeschlossen
fühle.«
Und nun gelangte der Analysand zu einerweiteren Einsicht: Es
wurde ihm klar, daß er es selbst war, der hier sprach, und zwar
zu seiner Geliebten. Von mir animiert, ihre Anwesenheit zu
imaginieren und frei heraus mit ihr zu reden, sagte er: »Du bist
eine Hure, eine Fremde. Ich mag dich nicht lieben, weil du für
jeden zu haben bist.«
Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß er immer noch von
ihr spräche und nicht mit ihr, erkannte er, daß er dazu nicht in
der Lage war. »Sie wird mich fressen,« sagte er, und dabei ging
ihm auf, daß er deshalb von so vielen kleinen Wesen geträumt
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hatte, weil sie in Wirklichkeit riesige Ungeheuer waren, die
Kinder fraßen, zumal einsame Kinder.
»Demzufolge«, bemerkte er, »muß jede Frau, die anders ist als
die eigene Mutter (die ein »reines Wesen« darstellt), ein Monster sein, dem man besser nicht zu nahe kommt, da es den
»Jungen« sonst fressen könnte. Ich weiß nicht, wie es mir
gelungen ist, nicht impotent oder homosexuell zu werden.«
Vermutlich gewann diese Erkenntnis für den Patienten an Bedeutung, als er sich wieder seiner Traumerfahrung zuwandte.
Er stand immer noch unter dem Eindruck, daß bei der vorigen
Betrachtung etwas gefehlt habe.
Hier folgt die Wiedergabe der neuen Sequenz in den Worten
des Patienten:
»Alles verlief wieder so wie im ersten Teil: Fäden, grünliche
Geschöpfe, die Ratte, der Vogel, die Waschung des Leibes
von Jakob, die Waschung des Gesichts meiner Mutter, deren
Augen geschlossen sind, mit dem milchigen Strom. Ich bin
mir bewußt, daß es sich hier um einen sexuellen Vorgang
handelt. Ich fahre fort, ihr Gesicht zu waschen und bleibe bei
ihr, bis sie aufsteigt in die Höhen. Nun wende ich mich dem
Mann im Schatten zu, der bedrohlich dominierend auf seinem Thron sitzt. Ich fliege hin zu ihm, um zu sehen, was er mit mir machen wird. Denn mir wird klar, daß nicht ich
dieser Mann bin. Als ich mich seiner
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